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Alice

von<br> Judith Hermann

Alice, Buchcover - (c) S. Fischer Verlag

Ein Mensch, der uns nahesteht, vergeht, er verweht wie Sand – „es ist die Zeit, wo unsere Tage verdunkelt sind und unsere Nächte finsterer als tausend Mitternächte“. Der Tod setzt die absolute Grenze, die Schwelle des „no return“. Wir können, so es uns gegeben ist, in Ruhe Abschied nehmen vom Sterbenden, zu Gott beten, so wir es können, uns Trost erhoffen, unserer Trauer Zeit lassen und Raum. Die Zeit des Sterbens und des Todes ist eine des Übergangs, eine des Wartens, des Festhaltens und Loslassens – schwer fassbar in Worte, noch schwerer in der Last und Leere, die in den Alltag bricht, ob plötzlich oder erwartet. Sterben und Tod, das sind Themen, die sich gemeinhin verschließen, die wir, die Lebenden, zu gern verdrängen, so lange wie es andere trifft, nicht uns, den Freund, den Mann, den nahen Verwandten.

Fünf Menschen sterben, sie gehen fort. Fünf Menschen, fünf Männer. Ihre Zeit war gekommen, das ist der Lauf des Lebens, das unabwendbare Ende, so sagt man leichthin: Krebs, das Herz, das Alter, eine akute Infektion vielleicht, einer, Malte, nahm sich das Leben (warum? Depression, Schwermut, manische Verstimmung? Wir wissen es nicht). Ihr Sterben zieht sich hin (Micha), ist unvorhersehbar (Conrad), nur eine Frage von Tagen (Richard), wird nicht erklärt (Raymond). Wir sind keine Ärzte und brauchen keinen Befund. Sie sterben, verschwinden, sind weg. Zurück bleiben Dinge, Bücher, Briefe, Bilder, Kleidung, ein Auto, und die nächsten Angehörigen: eine junge Mutter, Maja, und ihr Kind, Lotte, Margaret, Friedrich und dann Alice. Alice immer wieder, die dabei ist, mal mehr, mal weniger nah steht, die verbindet und Personen, Tode und Szenen lose verknüpft. Alice, die titelgebende Heldin in Judith Hermanns neuem Erzählband.

Kein Wort zu viel in den "Gespenstern"

Judith Hermann, die 1970 in Berlin geborene und lebende Schriftstellerin, hat sich Zeit gelassen. Mit „Sommerhaus, später“ (1998) gelang ihr der literarische Durchbruch. Nach dem hoch gelobten und bejubelten Erstling?, der mit dem Förderpreis? des Bremer Literaturpreises?, dem Hugo-Ball-Förderpreis? und dem Kleist-Preis? ausgezeichnet wurde, erschien lange nichts, dann 2003 „Nichts als Gespenster“, wieder sieben Kurzgeschichten, lakonisch und sprachlich präzis geschrieben wie der Vorgänger, ein Buch, das begeisterte, aber auch Abwehr hervorrief. Zu deprimierend, zu nüchtern, zu hoffnungs- und beziehungslos die Figuren, zu düster die Stimmung, zu bestimmend der Hauch von Melancholie, so die Kritik, obwohl lobenswert die sachliche Kühle, die Verdichtung der Sprache bis zum Äußersten, bis auf den Punkt. Kein Wort zu viel, kein Wort umsonst.

Friedrich-Hölderlin-Preis

Nach 2003 wieder langes Warten, und jetzt also ab Mai 2009 „Alice“ und gleich vorweg eine große Ehrung. Judith Hermann erhält in diesem Jahr den Friedrich-Hölderlin-Preis? der Stadt Bad Homburg. Die Autorin werde, so heißt es in der Begründung der Jury, für ihr bisheriges Werk geehrt, vor allem für ihren jüngsten Prosaband „Alice”, der „fünf atmosphärisch ebenso bezwingende wie stilistisch meisterhafte Geschichten vom Sterben und von der Erfahrung des Verlustes” versammle. Denn nicht der Tod ist Judith Hermanns Thema, nicht die Bedingtheit unseres Seins, die biologisch begründete Notwendigkeit von Werden und Vergehen, noch die metaphysische Dimension, die Frage nach Gott, Ewigkeit oder auch nur Sinn unseres Daseins, nein, vielmehr das leise, kleine, fast alltägliche Verschwinden, der lautlose Abschied, das unmerkliche Verblassen, das „es war“.

Zunächst das Warten: „Aber Micha starb nicht“, heißt es gleich zu Beginn, „nicht in der Nacht zum Dienstag, auch nicht in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch, möglicherweise würde er am Mittwochabend sterben oder in der Nacht zum Donnerstag. Die Ärzte sagten nichts mehr, sie hoben die Schultern und zeigten ihre leeren, desinfizierten Hände vor.“ Es sind lange Stunden, Tage für Maja, das Kind und Alice. In der Nähe des Krankenhauses haben sie sich eine Unterkunft besorgt, in Zweibrücken, wo es für Micha doch nur eine Brücke gibt, die in den Tod. Essen, Schlaf finden, schweigen, die Verrichtungen des Alltags, der Weg ins Krankenhaus zu Micha, der morphiumbetäubt noch ein- und ausatmet und mit offenen Augen daliegt. Dann endlich, der erlösende Anruf gegen vier Uhr früh, am nächsten Morgen der letzte Besuch: Michas Sachen sortieren in Koffer und Mülltüte, Abfahrt.

Dann das Weggehen: Sommerbesuch am Gardasee bei Lotte und Conrad, beide siebzig, mit traumhaft gelbem Haus am Hang. Nachts der sternenklare Himmel, die Erinnerung an den Vater, der die Bahn der Planeten erklärt: „Jupiter, Saturn, Erde, Mars, Venus ...“, und dann die Sternzeichen: „Das siebente Haus ist das Haus der Türen. Durch die die Menschen kommen und von dir weggehen. Die Planeten laufen langsam, aber sie machen ihre Transite, und dann ändert sich dein ganzes Leben.“ Conrad ist kurz vor Alice’ Ankunft plötzlich erkrankt. „Weißt du, ich habe gedacht, ich wäre unverwundbar“, sagt er ihr im Krankenhaus, am Tag danach ist er tot. Sie wollten zusammen noch schwimmen. Doch Alice wird allein in das eisige Wasser steigen: Sie gibt den Grund auf unter ihren Füßen, taucht ein und schwimmt hinaus.

Der Kreis wird enger

Der Tod zieht seine Bahnen, und der Kreis wird enger, er erreicht Berlin, kommt zu Richard in die Rheinsberger Straße, Prenzlauer Berg. Sie haben den Tag der Beerdigung schon festgesetzt, in drei Wochen, sagt Margaret. Zusammen mit Richard, die Musiker, die Grabstelle, die Friedhofskapelle, alles geklärt. Kein Pfarrer, keine Zitate, nur schönes Wetter, wenn möglich, berichtet sie Alice. Sie brauche nur Zigaretten und Wasser, haben kaum geschlafen die letzte Zeit. Denn es gehe rapide bergab. „Du kannst zusehen, du kannst zusehen.“ Dem Sterben ins Gesicht sehen, dem unausweichlichen Ende. Und dann, danach? Was bleibt? Ein Stapel Briefe von früher, die Malte Friedrich schrieb, bevor sie sich trennten für immer, ohne ein Wiedersehen. Die Jacke Raymonds, noch behaftet mit seinem Geruch, sein Auto, das jetzt zum Verkauf steht. „Wegräumen, verschenken, verkaufen, wegwerfen. Behalten. Eine Art Grabungsarbeit, das Freilegen von Schichten, Materialien, Zeitalter; zuletzt würde es nichts zu bergen geben, nichts außer der Tatsache, dass Raymond gestorben war, darauf lief es hinaus.“ Loslassen.

Der Tod ist ein Skandalon, das Sterben der tiefe und endgültige Riss im Leben, der unwiederbringliche Verlust. Die Gewissheit des Jenseits, wer hat sie schon, wer kann hoffen auf Wiederkehr, auf die Versöhnung in Gott? Das Leben geht weiter, das sagt sich so schön. Sich dem Alltag zuwenden, dem „obwohl“ und „trotzdem“, manchmal gelingt es, neue Bahnen zu wagen, einen Neuanfang. Die Stunde vor Mitternacht, hoch oben der schwarze Himmel, Jupiter, Saturn, Erde, Mars, Venus, Merkur, Uranus, Neptun und Pluto. So hieß es lange. Der alte Satz der neun Planeten, den der Vater jeden Sonntag ihr erklärte. „Der gilt nicht mehr, der Satz“, sagt der Rumäne, Alice’ alter, verbliebener Freund, „das weißt du hoffentlich, Pluto ist abgeschafft. Dafür gibt es jetzt andere Planeten.“ „Weiß ich“, sagt Alice, „wir können uns ja einen neuen Satz ausdenken.“ Später geht sie nach Hause.

Kein Drama, kein Schrei

Judith Hermann setzt Momentaufnahmen, sie leuchtet aus, deutet an, ihre Sprache registriert leise Befindlichkeiten, spürt Stimmungen auf, seismografisch genau ertastet sie die oberste Schicht des Alltags, die unmerklichen Veränderungen im Lauf der Wochen, Monate vor und nach dem Sterben, dem Tod. Die große Emotion, das Drama, der Schrei – sie finden nicht statt, die Sätze überschlagen sich nicht, die Sprache reißt nicht auf, sie bricht nicht ab in ihrem langsamen, stetigen Fluss, sondern sie führt Protokoll? in wohlgesetzten Worten, ist ganz bändigende Form, verknappt, konzentriert. Weiß sie denn mehr, so klar, schön und luzide? Will sie bewahren, achtsam sein, Trost spenden sogar? Zumindest kündet sie von einem Nachhauseweg in sehr freundlicher Nacht, vom Glimmlicht einer Zigarette, vom Licht in der Dunkelheit und Alice’ winkender Hand, die scharf geschnitten sichtbar wird als Schatten und die viel zierlicher ist als gedacht.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

  • Hermann, Judith: Alice. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 192 S., 18,95 €, ISBN: 978-3100331823
  • Judith Hermann Bücher bei Jokers

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