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Allseits flexible Menschen

Eher folge ich einer Auffassung Walter Benjamins?, der in der Geschichte ein schlummerndes und auf Erlösung harrendes Potenzial erblickte, als dessen Adressaten die Gegenwart sich begreifen sollte, für die mémoire involontaire, die man die wahre Erinnerung nennen mag. In seinem Essay über den Flexiblen Menschen illustrierte Richard Sennett?, was seine Lehrerin Hannah Arendt vor einem halben Jahrhundert in ihrer philosophischen Abhandlung? über die Vita Activa am Horizont heraufdämmern sah: eine Welt, in der die übergroße Mehrzahl der Menschen zu bloßen Anhängseln eines kapitalgetriebenen technologischen Prozesses werden. Erneuerung kommt nicht aus der Beschwörung der „guten Dinge“ oder bedrohter Tugenden, von denen wir bis auf Weiteres annehmen wollen, dass sie mit den wachsenden Notlagen wieder sprießen werden, sondern aus der Einsicht in den Zwang der epochalen Notwendigkeiten - und dem Willen jeder neuen Generation, sich eine Heimat zu bauen, in der sie und ihre Kinder leben können.

„Natalität“ hieß das bei Hannah Arendt, und ihr Feld ist die Politik. Entweder ist der Mensch die Zukunft des Menschen oder seine Vergangenheit. Seine Gegenwart kann er nur sein, wenn er auf die Konturen des Tiers, das er enthält und das seine Infrastruktur ist, reduziert wird. Das musste den sterblichen Menschentieren mal dringend gesagt werden. Während das Denken des 20. Jahrhunderts noch lange nicht zu seinem Ende gekommen ist, ist das Subjekt des Denkens schon längst im neuen Jahrhundert angelangt. Und während dieses erste Denken seinem Abschluss entzogen scheint, ist ihm als Denken des neuen Jahrhunderts, einem Denken der Gegenwart, auch sein eigener Anfang verborgen. Das Denken der Gegenwart hat seine Vergangenheit noch vor sich und seine Zukunft ist immer schon zu viel Gegenwart, als dass es ein Innehalten für es gäbe. Das Denken ist immer schon zu spät und der Augenblick des Jetzt immer zu früh. Dinge geschehen, und wenn sie nicht geschehen wären, wäre auch nicht viel weniger passiert. An große Ereignisse, zumal politische, die in ihrem Leben etwas verändert hätten, können sich die globalisierten Menschen nicht erinnern. Wovon leben eigentlich die Gespenster, die Judith Hermanns Erzählungen bevölkern?

Der Anthropologe Hellmuth Pleßner hat den Menschen als ein exzentrisches Wesen beschrieben. Im Unterschied zum Tier, das in seiner biologischen Spezialisierung distanzlos lebt, wie es ist, und keine Außensicht auf sich selbst hat, sieht sich der Mensch umgeben von einem weiten Horizont unterschiedlicher Möglichkeiten und vergleichbarer Existenzen. Offen zur Totalität und zur Zukunft erfährt er sich dabei als jemand, der sich bewusst zur Welt verhalten und immer wieder korrigieren muss, der sich Ziele setzt, sich irren und scheitern kann, jemand, der im Chaos der Möglichkeiten und Widerstände nach Sinn und Zusammenhang sucht, jemand, dessen Welterfahrung und Selbsterfahrung untrennbar ineinander verschränkt sind und sich in unentwegter Reibung ständig erneuern. Zu Klagen vor Gerichten führen nicht alle Bücher, in denen existierende Menschen mit ihren Schwächen beschrieben werden. Zu Klagen führen Bücher, deren Schriftsteller einem extremen narzisstischen Selbstbild frönen. Fehlleistungen des Autors kann sein Erzähler nicht wettmachen. Der Zugang zur Wirklichkeit ist keine Sache des Willens; er führt durchs Nadelöhr. Realität wird durch eine Art narrativer Aufmerksamkeit wiedergegeben. Einem Klischee entkommt man noch nicht, bloß weil man es als Klischee entlarvt hat. Von Aristoteles bis zum Bundesverfassungsgericht wird darüber gestritten, wie nah an der Wirklichkeit sich die Literatur befindet. Erfindet sie eine eigene Welt, bezieht sich auf ihre Umwelt, und wenn, auf welche Teile ihrer Umwelt?

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