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Atemschaukel

von<br> Herta Müller

Atemschaukel, Buchcover - (c) Fischer Taschenbuch Verlag

Herta Müller, 57 Jahre alt, Rumäniendeutsche und Nobelpreisträgerin für Literatur des Jahres 2009, hat ihr Werk einen "Roman" genannt. Er besteht aus 64 Kapiteln von sehr unterschiedlicher Länge. Manche sind nur eine halbe Seite lang, daneben gibt es Kapitel von mehreren Seiten Umfang.

"Atemschaukel" erzählt das Leben des siebzehnjährigen Leo in den Abschnitten Verhaftung – Deportation – Lager – Heimkehr. Die Verhaftung und Deportation stehen am Anfang. Die Kapitel, die Leos Bemühen um Wiedereingliederung in der Heimat zeigen, stehen am Ende. Die Schilderungen des Lagerlebens stehen im Mittelpunkt und machen den größten Teil aus. Der Aufenthalt Leos im sowjetischen Lager beginnt im Januar 1945. Die Heimkehr findet fünf Jahre später statt.

Die Recherche

Als die Sowjets das bis 1944 mit Hitler-Deutschland verbündete Rumänien besetzten, sollten die Deutschen in Rumänien für die Schandtaten der Wehrmacht in der Sowjetunion büßen. Es wurden alle deutschstämmigen Männer und Freuen zwischen 17 und 45 Jahren ergriffen und ins Arbeitslager gesteckt. Die Deportation dauerte fünf Jahre lang. Die Überlebenden waren gestörte Menschen, die nur selten wieder Eingang in das Leben der Gesellschaft fanden. Mit ihnen hatte Herta Müller in ihrer Jugend zu tun. Aber niemand in ihrem Dorf und auch nicht in der Stadt Temesvar, wo sie das Deutsche Gymnasium besuchte, wollte darüber sprechen.

Das Thema packte Herta Müller erneut, als sie den viel älteren Dichter Oskar Pastior? kennenlernte und ihn zum Berichten über seinen Lageraufenthalt brachte. Aus der Bekanntschaft wurde eine Freundschaft und die Freundschaft ließ in Herta Müller den Wunsch entstehen, dieses Buch mit ihm zusammen zu schreiben. Doch der Gewährsmann starb und Herta Müller musste das Werk alleine zu Ende bringen. Im Nachwort? zum Roman setzte sie ihrem Freund und Mentor ein Denkmal.

Die Darstellung der Lagerlebens

Das Arbeitslager lag zu Füßen der Karpaten. Herta Müller hat es später aufgesucht, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Doch es ist nicht mehr viel davon übrig geblieben. Die Steppe hat das meiste schon geschluckt. Es ging den Gefangenen dort sehr schlecht. Sie mussten bis zur Erschöpfung arbeiten, bekamen aber keine ausreichende Nahrung. Die mangelnde Hygiene verursachte Ungeziefer. Das Ungeziefer übertrug Krankheiten. Die ausgemergelten Menschen konnten vor lauter Flohbissen nicht schlafen. Sie mussten zum Appell antreten und viele Stunden lang still stehen. Sie wurden schikaniert, gedemütigt und ausgebeutet.

Die Darstellung des Lagerlebens im Roman schafft es, das Leid mitteilbar zu machen. "Atemschaukel" baut Spannung auf, obwohl die äußere Handlung spärlich ist. Diese Spannung konzentriert sich nicht auf den Fortgang der Handlung, das heißt auf das Leben des Protagonisten Leo, sondern auf die Überlebensstrategien mehrer, vor allem weiblicher Lagerinsassen. Als Gefangener lernte man, aus allem einen Funken Lebens zu schlagen.

Was der Roman über das Leben im Arbeitslager verrät, stellt nicht etwa eine Fantasiewelt dar. Jeder Buchstabe? ist mit der Wirklichkeit des Leids durchtränkt. Dabei kommt die Autorin ohne Feindbilder aus. Was sie darbietet. lässt sich als Zitronenauspressen verstehen. Sie presst die Zitrone Wirklichkeit bis auf den letzten Tropen Saft aus. Sie erfindet für das Inwendige der Dinge eine berückende poetische Sprache.

Die Rückkehr

Nicht weniger wichtig als die Zeit im Lager ist das Leben der Überlebenden, das dann folgte. Sie kehrten zwar in die Heimat zurück. Doch sie hatten die Heimat während des Lagerlebens "verzehrt", so wie man auf einer langen Wanderung ein Stück Brot aufisst. Die vertrauten Dinge und Menschen waren ihnen fremd geworden und sie schafften es nicht, sich wieder einzuklinken. Vielleicht hätten sie Hilfe gebraucht. Aber es gab keine Hilfe. Es gab nur die alten Erwartungen. Aber die Lagermenschen waren andere geworden. Auch Leo ist nach dem Lagerleben nicht mehr er selbst. Es besteht keine Hoffnung, dass er es je wieder werden könnte. Der Roman bringt es auf die Formel: "Ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir."

Sprachliche Verwandlungskraft

Es ist ein Verdienst Herta Müllers, die im Nachkriegsrumänien tabuisierten? Themen Deportation und Arbeitslager behandelt zu haben. Doch die gesellschaftliche Relevanz des Themas allein reicht für ein literarisches Werk nicht aus. Man muss auf die Sprachkunst des Romans schauen. Dann wird man nicht schlecht staunen. was die Autorin mit dem "Dreck" aus dem Arbeitslager angefangen hat. Sie hat ihn so lange bearbeitet, bis er seine "poetische" Seite offenbart hat.

Jeder Mensch, der darüber nachdenkt, was er von einem Arbeitslager zu erzählen würde, würde bald mit dem Erzählen aufhören. Worüber soll man schon berichten, ohne dass Langeweile aufkommt? Doch da, wo wir Heutige wenig sehen, sieht die Autorin eine ganze abstruse Welt aufsteigen. Sie lebt verborgen im Tagesablauf, in der Art der Kleidung, in den Gesichtern der geschundenen Menschen. Die Autorin hat in vielen Gesprächen eine eigene Wahrnehmung dafür entwickelt. Sie weiß, auf welche Details es ankommt. Sie formt das Material der Wahrnehmungen zu einer eigenen Welt in der Sprache.

Diese erzählte Welt lebt von Wörtern wie "Hautundknochenzeit" für die Zeit im Lager, "Hungerengel" für die beständige Begleitung des Hungergefühls, "Esswörtern", um auszudrücken, dass der hungrige Mensch, der nichts zu essen hat, Wörter isst, "Atemschaukel" für die Anspannung in der körperlichen Arbeit, die dem Bewusstsein des Menschen keinen Raum lässt, an anderes zu denken. Der Mensch der Atemschaukel ist an die Arbeit eingehängt und wird von ihr geatmet. Es gibt kein Entrinnen vor dem Entsetzlichen.

Diese Schlüsselwörter tauchen auf jeder Seite wieder auf. Sie bilden ein unsichtbares Netz von Bedeutungen?, das immer intensiver wird. Eine Handlung wie im Roman üblich gibt es nicht. Es gibt nur die Sprache in unvergleichlicher Intensität. Was es gibt, sind Episoden?, kurze Handlungen und genaue Beschreibungen. Sie werden wie ein Puzzle zu dem zusammengesetzt, was die Autorin einen Roman nennt. Es ist in der Tat ein Roman im ursprünglichen Sinn von unglaublichem Geschehen.

„Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts Anderes mehr denken kann. Der Gaumen ist größer als der Kopf, eine Kuppel, hoch und hellhörig bis hinauf in den Schädel. Wenn man den Hunger nicht mehr aushält, zieht es im Gaumen, als wäre einem eine frische Hasenhaut zum Trockenen hinters Gesicht gespannt. Die Wangen verdorren und bedecken sich mit blassem Flaum.“ (Atemschaukel, S.24 f.) Herta Müllers Roman kann als eine packende Studie verstanden werden, wie der Mensch "auf den Hund kommt". Es geht schneller, als angenommen. Doch die Sprache des Romans konserviert die Würde des Menschen, die im Arbeitslager abhanden kommt.

Im Sommer 2010 ging die Nachricht durch die Presse, dass Oskar Pastior?, der enge Freund, sich von 1961 bis 1968 als Spitzel für die Securitate verpflichtet haben soll. Die Schriftstellerin reagierte auf diese Nachricht nach eigener Aussage mit Wut, Anteilnahme und Trauer. "Ich muss mich nicht von Oskar Pastior distanzieren. Ich habe einen Menschen weiter so lieb, wie ich ihn vorher hatte", sagte sie bei einer Veranstaltung im Literaturhaus Berlin?.

Autor: Dr. Johannes Heiner

Literaturangaben

  • Müller, Herta: Atemschaukel. Roman. Hanser Verlag, München, 26. Aufl. 2009. 304 S., 19,90 €, ISBN: 978-3446233911. Broschierte Ausgabe: Fischer Taschenbuch Verlag. 304 S. Frankfurt/Main 2011, ISBN: 978-3596187508

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