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Der entfesselte Globus

von<br> Ilija Trojanow

Ilija Trojanow hält es nicht lange an einem Ort. Er ist ein Reisender, einer, der am liebsten unterwegs ist, einer, den die Neugier treibt, der immer wieder aufbricht in die Ferne und Fremde. 1965 in Sofia geboren, flüchtete er 1971 mit den Eltern über Jugoslawien und Italien in die Bundesrepublik, wo sie politisches Asyl erhielten. Für Ilija folgten eine Kindheit in Kenia und Deutschland, ein Studium der Rechtswissenschaft und Ethnologie in München, lange Auslandsaufenthalte in Arabien, Afrika und Indien. Er lebte über Jahre in Mumbai und Kapstadt, kehrte zurück nach Europa, war Mainzer Stadtschreiber? und ließ sich erst jüngst in Wien nieder.

Afrika, Indien, Asien und Bulgarien heißen die Stationen seines neuen Buches „Der entfesselte Globus“. Es vereinigt Reportagen? und Texte aus zwanzig Jahren, berichtet von Trojanows Aufbrüchen in die Fremde, von der Entdeckung der Vielfalt und seinen Begegnungen mit dem Unverständlichen dieser Welt. Vielschichtig, polyphon? und sehr unterschiedlich sind die Texte: Ilija Trojanow wählte sie aus nach persönlichem Interesse, nach der Bedeutung, die sie für ihn hatten und haben. In ihrer Verschiedenheit zeugen sie vom Zustand unserer Welt, gesehen mit den Augen eines Weltenbummlers und Kosmopoliten.

Eine deutsche Schule in Nairobi

„Szenen aus der Savanne der Jugend“ eröffnen die Auswahl. Sie führen in die Jahre 1982 bis 1984, in denen Trojanow die deutsche Schule in Nairobi besuchte. „Das Aufwachsen in mehreren Sprachen. Die selbstverständliche Existenz des anderen. Der umgekehrte Blick auf vermeintliche Wahrheiten“ wappneten ihn für die globale Welt. So ist Trojanows Blick offen und geschärft für ungewöhnliche Begegnungen, wie mit „Oscar in Afrika“ oder dem Sprachensammler Nikolai Goworitsch an Bord einer Antonow in Guinea 1994, für die Bedeutung menschlicher Gemeinschaft für Afrikaner („Nicht Schlimmeres als Alleinsein“, 1995) und die Gräben der Apartheid, die Südafrikas Bevölkerung noch heute im Sport trennen („Der Kampf um Bälle und Köpfe“, 2005).

Ob die erschreckende Stille in Ruanda im März 1994, kurz bevor der schlimmste Massenmord unserer Zeit ausbrach, ob in Dar-es-Salaam zu Beginn der Regenzeit 1996 („Jede Regenzeit eine Neuanfang“), Trojanow lässt den Leser teilhaben an Momenten, die weit über sich hinausweisen. In klare Sprache gefasst und präzise, reflektiert, selbstkritisch im Ansatz entstehen so farbige Bilder eines konfliktbeladenen, den Europäern oft unverständlichen Kontinents, dessen helle wie dunkle Seiten nur allzu häufig aus dem Blickfeld eurozentrischen Interesses gedrängt werden.

Die ausufernden Slums von Mumbai

1999 übersiedelte Ilija Trojanow nach Mumbai (früher Bombay), einer der größten Megacitys der Erde. Er führt den Leser in die ausufernden Slums, die platt gemacht werden für exklusive „Inseln der Modernität, Zivilisation und Schönheit“ inmitten eines „bedrohlichen Sumpfes von Chaos und Unordnung“, und doch Heimstatt sind für Abermillionen, die hier unter unzumutbaren Bedingungen arbeiten, leben und sterben. Er berichtet von den Vorbereitungen zum Besuch W. J. Clintons, („Willkommen in Clintonnagar“, 2001), einer einzigartigen Putzaktion, die nur potemkinsche Fassaden hervorbrachte und Millionen verschlang; er erkundet „Indiens Reaktion auf ‚War on Terror’“ (2003) und lädt ein zu einem Streifzug durch die zeitgenössische indische Literatur.

Mit Trojanow als Guide lernt man den „Sehnsuchtsort“ Bali kennen, jedoch ohne einschränkende Wahrnehmung und touristische Verklärung, sondern kurz nachdem im Oktober 2002 Terroranschläge in Kuta Beach an die zweihundert Menschen in den Tod rissen. Zusammen mit ihm besucht der Leser einen Golfplatz in Bahrain (2006), erlebt eine medial inszenierte Anti-Rushdie-Demonstration in Pakistan und begleitet ihn auf einem Kreuzfahrtschiff über den Indischen Ozean (2007): Hier ist die Welt „ein kaltes Büfett, an dem das Fremde zaghaft, mürrisch und voller Vorbehalte verkostet wird. Meistens wird sie angewidert, empört schockiert wieder ausgespuckt“.

Die Schrecken des bulgarischen Gulag

Und dann Bulgarien, das Land seiner Geburt, 14 Jahre nach Ende der kommunistischen Herrschaft: Georgi Konstantinow? bemüht sich vergeblich um Einsicht in sämtliche Akten, die seine zehn Gefängnisjahre als politisch Inhaftierter illustrieren („Bulgariens Kohlhaas“, 2003). Die alten Männer, mit denen Trojanow im Juni 1996 Belene auf der gleichnamigen Donauinsel besucht, erzählen von den Schrecken des bulgarischen Gulag, in dem 1949 bis 1989 ungezählte Regimekritiker den Tod fanden. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt, „weil keine einzige der ‚demokratischen’ Regierungen des Landes den Anstand und den Mut hatte, die Dossiers der Lagerverwaltung und der Staatssicherheit zu öffnen …“. Die herrschende Schicht deckt weiterhin die Verbrechen der Vergangenheit, viele Getreue des alten Regimes sind heute erfolgreiche „Buzinissmen“, mit besten Verbindungen zur organisierten Kriminalität.

„Mit sechs wurde ich ins Unverständliche geworfen: Seither versuche ich mir einen Reim? darauf zu machen“, schreibt Ilija Trojanow im Vorwort?. Dass dem Verleger, Übersetzer und Schriftsteller das gelingt, ist nicht zuletzt seiner Heimat geschuldet: der deutschen Sprache. Seine bisherigen Veröffentlichungen?, darunter „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ (Roman, 1996), „Heimkehr in ein fremdes Land“ (Reportage?, 1999), „Der Weltensammler“ (Roman, 2006), und die jetzt vorliegende Sammlung „Der entfesselte Globus“ weisen ihn aus als literarischen Globetrotter, den die „flimmernd ungewisse Vielfalt“ des Planeten gefangen hält und beglückt – und der es dem Leser ermöglicht, diese Welt mit anderen, offenen Augen zu sehen.

Literaturangaben

  • Trojanow, Ilija: Der entfesselte Globus. Reportagen. Carl Hanser Verlag, München 2008. 195 S., 17,90 €, ISBN: 978-3446230309

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