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Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung

von<br> Dieter Richter

Der Süden, Buchcover - (c) Verlag Klaus Wagenbach

Palmen, blaues Meer, die hoch im Mittag stehende Sonne. Der Süden ist eine Idee, die wir in uns tragen. Und er ist eine Realität, unbekannt zunächst den Völkern der Antike, eine Terra incognita außerhalb der Landmassen rund um das „Meer der Mitte“, lange Zeit gefürchtet und dann gesucht – von Abenteuern, Entdeckern und Eroberern. Sie näherten sich den Quellen des Nils. Mit Schiffen tasteten sie sich vor bis an das Ende des Südkontinents, sie brachten Kunde von Schrecken und Schönheit, exotische Schätze für lusitanische Paläste und Wunder fürs Dresdener Grüne Gewölbe. Später wagten sich Männer weiter, immer weiter, bis an das letzte Ziel: den südlichsten Süden. Er war der einzige Punkt, von dem man den Süden nicht schauen konnte: Der Südpol war eine lausige Entdeckung, Robert Falcon Scott nannte ihn „den trostlosesten Ort dieser Welt.“

Der Süden unserer Vorstellung hingegen ist stets ein Ort der Verheißung. Der Suchende folgt dem Kompass der Seele, der in die Himmelsrichtung des Glückes weist, dagegen steht die reale Magnetnadel, die geopolitische Zonen absteckt, vermisst und in Breitengrade teilt. Der Ausgangspunkt bestimmt die Reise: „Unsere Orientierung ist nach Norden ausgerichtet, unsere Sehnsucht aber geht nach Süden“, schreibt der Literaturwissenschaftler Dieter Richter? und führt uns durch Traum und reale Eroberung. Wir folgen ihm auf seinem Streifzug durch Zeiten und Zeugnisse. Bei Kälte und trübem Himmel erstrahlt ein Bild voller Sonne, Wärme, an dunklen Tagen träumt es sich wohlig in südliche Gefilde mit tropischer Flora und betörender Blütenpracht. Mauritius, das Abenteuer Südsee oder nur die Algarve?

Die Betonburgen von Lloret de Mar lassen wir außen vor. Dieter Richter ist kein Mann, der Sehnsüchte entzaubert, sondern sie entfacht: die Lust, auf kulturgeschichtliche Entdeckungsreise zu gehen, die Winde der vier Himmelsrichtungen körperlich zu spüren und den Erzählungen zu lauschen – von den ersten Kosmogonien bis zu Noahs Sohn Ham, dem Stammvater aller Völker der heißen Zonen dieser Erde, von der schwarzen Hautfarbe der Mohren, dem Schwarz, das im Mittelalter zur Farbe des Bösen wurde und doch auch Heilige, gar die Muttergottes (Altötting, Tschenstochau) schmückt. Wir hören von Feirefiz, dem schwarz-weißen Gralsritter, aber auch von den Antipoden der südlichen Hemisphäre, deren „fueze gegen uns gekeret“ sind, kleinwüchsige, gar missgestaltete Fabelwesen an der Grenze der Erde.

Die Wahrnehmung des Südens war widersprüchlich, die geistige und reale Topographie nie deckungsgleich. Dieter Richter nähert sich ihnen integrativ, bei ihm verschmelzen Literatur-? und Kulturgeschichte, Ethnologie und materielle Geschichtsforschung. Wer seine jüngeren Veröffentlichungen kennt und schätzt – seit 2004 sind allein bei Wagenbach? vier wunderbare Bände?, über Neapel, den Vesuv und Carlo Collodi erschienen – , weiß, wie elegant er mit wenigen Strichen Panoramen entwirft und welch ungewöhnliche Perspektiven er eröffnet. Aus einem unerschöpflichen Fundus wählt Richter überraschende Details, er hält den Funken des Südwehs wach, der den Pilger ins Heilige Land, nach Rom und Santiago de Compostela aufbrechen ließ und den Seefahrer in „Meere, die zuvor nie befahren“.

„Stupor mundi“, das Staunen der Welt, begleitet den meridionalen Aufbruch und treibt ihn voran, vom Cabo de Não segeln die Karavellen zum Kap der Guten Hoffnung, umrunden es und stechen in die pazifische See. Die Macht des Wünschens erweist sich stärker als die Furcht, und die Sehnsucht wechselt, wie so oft, die Himmelsrichtung. In Neu Kythera erblüht jetzt das europäische Utopia?, Tahiti wird zum Eiland freier Sinnlichkeit, zum glücklichsten Winkel der Welt. Im Wörlitzer Gartenreich des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz verbindet sich die Trias von Rousseauismus?, englischem Landschaftsgarten und Südsee-Schwärmerei, während wenig später Montesquieu eine erste Geographie der Mentalitäten entwirft. In seiner Klimatheorie stehen sich Norden und Süden als Pole einer allgemeinen Kulturanthropologie gegenüber.

Der Topos? vom sinnlichen Süden ist nicht neu, vor allem Johann Joachim Winckelmann? sprach den Völkern südlicher Breiten, speziell des Mittelmeerraums, den Primat der Schönheit zu, des Geschmacks und der künstlerischen Bildung. Dieter Richter, der selbst lange Zeit in Italien als Gastprofessor und zu Forschungen weilte, wird es aus eigener Anschauung bejahen. Die Idealisierung des „homme du midi“ steigert sich zur Zeit der Romantik, wirkt plakativ weiter als populäre Ethnographie, wird bestätigt oder durch reales Erleben verworfen von den Reisenden auf Grand Tour. Gelebt wird sie in den Kolonien der freien Geister, der Hedonisten, Dandys und Exzentriker, auf dem Monte Verità bei Ascona und auf der Insel Capri – als Raum der Freiheit, eines Eldorado der Vitalität.

Die Hochglanzprospekte der Reiseveranstalter versprechen ein Märchen. „Über die Alpen in den sonnigen Süden“ – hier liegt das Schlaraffenland, „O sole mio“ singt der Capri-Fischer, die Klischeegestalt einer Anderswelt. Die Freizeitgesellschaft schafft sich ihre eigene Mythen, Mallorca, die Malediven, die Karibik, Rimini. Der Sonnenhungrige jettet in einen Süden, der längst ubiquitär geworden ist, als ein Land, in dem einfach nur die Sonne scheint, und schließt die Augen vor den unzähligen real Hungernden, denen allein der Norden Arbeit, Nahrung und Auskommen verspricht. Ceuta und Lampedusa heißen die nördlichen Grenzmarken der bitteren Flucht aus Afrika, im Norden, jenseits der Sonora-Wüste, liegt das gelobte Land für die Elenden Mexikos. Ach ja, die Länder des Nordens sind reich, an Technologie, Wissen, Macht, aber dunkel und kalt sind die Winter, und die innere Sehnsucht brennt.

Werden sich mit dem Klimawandel die Parameter der kollektiven Psychologie verschieben? Bekanntlich reichen bereits einige Hitzetage, oder -wochen wie im nie endenden Sommer 2003, und schon kühlt unsere Liebe zur südlichen Sonne merklich ab. Doch was soll’s. Während wir in geheizten Stuben das nächste Frühjahr ersehnen, blättern wir in Dieter Richters schönem und reich bebildertem Band, wir schreiten mit ihm die Geschichte des Südens ab, drehen das Thermostat auf und folgen den Träumen und Reiserouten ins Glück. Dieses Buch macht Lust, in die südliche Ferne zu schweifen, der Alltag, Haiti, der Tschad, auch Durst und Dürre seien kurz vergessen. Wir tanken etwas Sonne und Licht. Dank sei ihm ausgesprochen, ein großes Lob wurde Dieter Richter bereits zuteil: Sein Buch „Der Süden“, exquisit gestaltet und mit Kenntnis geschrieben, erhielt den NDR Kultur Sachbuchpreis? 2009.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

Richter, Dieter: Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009. 208 S., mit zahlr. Abb., 24,90 €.

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