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Die unsichtbaren Städte

von<br> Italo Calvino

„Traduttore, traditore!“, so lautet ein italienisches Sprichwort und bringt damit eine jede Übersetzung auf den Punkt: Der Übersetzer (traduttore) ist immer ein Verräter (traditore) des zu übersetzenden Textes, dem Autor und auch dem Leser gegenüber. Da macht Burkhart Kroebers? Neuübersetzung von Italo Calvinos (1923-1985) „Die unsichtbaren Städte“, im Carl Hanser Verlag? erschienen, keine Ausnahme. Die Frage ist lediglich, wie weit der Übersetzer sich vom Text entfernt hat und ob er dessen Atmosphäre treffend ins Deutsche übertragen konnte.

Doch zunächst zu Struktur? und Inhalt dieser Erzählung – oder sollte man eher Kombinationserzählung oder gar Spiel sagen? Was Calvinos Text auf jeden Fall nicht ist: ein Roman! Mit diesem Etikett wurde die Erstübersetzung von Heinz Riedt? im Jahr 1977 vom Carl Hanser Verlag? versehen. Klugerweise verzichtet die Neuausgabe? darauf, denn es sind Geschichten, Beschreibungen oder Parabeln, die für sich stehen und nicht miteinander in Verbindung treten.

Calvino, der Kombinationsspieler

Die Rahmenhandlung? beschreibt die Begegnungen des Mongolenkaisers Kublai Khan (1215?1294?) mit Marco Polo (1254?1324?). Zwischen den gleichnishaften Begegnungen berichtet Marco Polo dem Großkhan von den Städten – eine Anspielung auf Marco Polos Bericht „Il Milione“ (in deutscher Übersetzung: „Welt der Wunder“). Wobei die Städte in Calvinos Buch nicht im 13. Jahrhundert stehen geblieben sind, sondern auch anachronistische? Elemente enthalten, wie beispielsweise eine Untergrundbahn.

In diesem Buch offenbart sich Calvino als ein großer Kombinationsspieler: die 55 Städtebeschreibungen sind in neun Kapiteln aufgeteilt. Wobei das erste und letzte Kapitel jeweils zehn Städte, die restlichen sieben Kapitel jeweils fünf Städte beschreiben. Jede Stadt wird einer von 11 (Städte-)Kategorien zugeordnet, so dass jede Kategorie fünf Städte zählt.

Calvino benutzt nun folgende Regel: Immer wenn eine neue Kategorie eingeführt wird, muss die vorhergehende Kategorie, beziehungsweise die vorhergehenden Kategorien, um eins erweitert werden. Und sobald eine Kategorie fünf Mal Erwähnung findet, fällt sie im darauf folgenden Kapitel weg. Hieraus ergibt sich folgendes Modell – wobei die Buchstaben a bis k für eine Kategorie stehen und die Ordnungszahlen für die Anzahl der Nennung (zu Kapitel I und IX habe ich Trennungsstriche eingefügt, damit die Folge besser zu ersehen ist):

Kapitel I: a1 | a2, b1 | a3, b2, c1 | a4, b3, c2, d1

Kapitel II: a5, b4, c3, d2, e1

Kapitel III: b5, c4, d3, e2, f1

Kapitel IV: c5, d4, e3, f2, g1

Kapitel V: d5, e4, f3, g2, h1

Kapitel VI: e5, f4, g3, h2, i1

Kapitel VII: f5, g4, h3, i2, j1

Kapitel VIII: g5, h4, i3, j2, k1

Kapitel IX: h5, i4, j3, k2 | i5, j4 k3 | j5, k4 | k5

Betrachtet man diese Folge als eine Art Kartenspiel in Dreiecksform, so ergibt sich folgendes Spiel in neun Runden (da neun Kapitel):

Die erste Runde:a1

a2 b1

                                                                   a3 b2 c1
a4 b3 c2 d1

Die zweite Runde: a5 b4 c3 d2 e1

Die dritte Runde: b5 c4 d3 e2 f1

Die vierte Runde: c5 d4 e3 f2 g1

Die fünfte Runde: d5 e4 f3 g2 h1

Die sechste Runde: e5 f4 g3 h2 i1

Die siebte Runde: f5 g4 h3 i2 j1

Die achte Runde: g5 h4 i3 j2 k1

Die neunte und letzte Runde: h5 i4 j3 k2

                                                                                     i5 j4 k3
j5 k4
k5

Wie man sieht, baut Calvino zunächst eine Dreiecksstruktur auf und behält sie bis Kapitel acht beziehungsweise Runde acht bei. Dann beginnt er ein Dreieck mit der Spitze nach unten. Bezeichnenderweise führt Calvino als letzte Kategorie (k) „Die verborgenen Städte“ ein, so als ob diese Struktur im Verborgenen weiterexistiert, als „die unsichtbaren Städte“, wie es im Titel heißt.

„Gespenster und Kybernetik“

Erhellend ist ein Rückblick auf „Gespenster und Kybernetik“, Calvinos eindruckvollen Vortrag aus dem Jahr 1967. Hierin beschreibt er, was er unter Erzählen versteht: Die Kombination von aufeinander folgenden Wörtern, die einer bestimmten Regel oder – wie er sagte – einer bestimmten „Grammatik“ folgen. Und so muss man auch die Struktur in „Die unsichtbaren Städte“ sehen: die Städtebeschreibungen folgen einer bestimmten Logik, besser: einer bestimmten Spielregel.

In besagtem Vortrag legt Calvino offen, was Erzählen in heutiger Zeit bedeutet: „...wie die Kultur von heute die Welt sieht, gibt es eine Tendenz, die an verschiedenen Punkten gleichzeitig an die Oberfläche steigt: Die Welt in ihren verschiedenen Aspekten wird immer mehr als ‚diskret’ und nicht als ‚stetig’ gesehen. Ich verwende den Begriff ‚diskret’ in seiner mathematischen Bedeutung: eine ‚diskrete’ Menge setzt sich aus getrennten Teilen zusammen. Der Gedanke, der uns bis gestern als etwas Flüssiges erschien, rief in uns lineare Bilder wach – wie ein strömender Fluss (...). Heute neigen wir dazu, ihn als eine Serie unstetiger Zustände und Impulskombinationen an einer endlichen Zahl (einer riesenhaften, doch endlichen Zahl) von Kontroll- und Sinnesorganen zu sehen.“

Das diskrete Aufeinanderfolgen der Texte

Und so wird eine weitere Struktur des Buches sichtbar, die belegt, dass es sich um keinen Roman handelt: das diskrete Aufeinanderfolgen der Texte. Selbst die Episoden? der Rahmenhandlung? vor und nach den Kapiteln zeugen von diesem diskreten Verfahren, dem jedoch, wie einem Schach- oder Kartenspiel, feste Kombinationsmöglichkeiten zugrunde liegen.

Im Klartext heißt dies, dass mit „Die unsichtbaren Städte“ strukturell ein Kombinationsspiel vorliegt. Calvino verbindet hier mathematische Kombinatorik mit der Sprache beziehungsweise der Sprachwissenschaft (siehe strukturale Linguistik, strukturelle Semantiker, neoformalistische Schule der Sowjetunion oder Raymond Queneaus? Sprachexperimente mit der Gruppe „Ou Li Po?“, der Calvino angehörte).

Ein poetischer Genuss

Bereits aus den Andeutungen der Calvinoschen „ars combinatoria“ sollte deutlich werden, welch großartiges Werk? von Calvino hier vorliegt. Aber von der Struktur einmal abgesehen, sind die Beschreibungen der Städte allein ein poetischer Genuss, wenngleich sie in Prosa vorliegen. Teils traurige, aber auch lustige sowie bizarre und rätselhafte Städte werden beschrieben. Kurzum: Calvino schuf eine Hommage an die Stadt: „Die unsichtbaren Städte“ ist ein moderner Klassiker, den wieder zu lesen unbedingt lohnt!

Aber – in dieser neuen oder in der alten Übersetzung? Will der deutschsprachige Leser näher am italienischen Text sein, dann sei empfehle die alte Übersetzung von Heinz Riedt? empfohlen. Hier werden beispielsweise die Kategorien „Le città sottili“, „Le città e gli scambi“ und „Le città continue“ ziemlich nah zum Deutschen übersetzt: „Die subtilen Städte“, „Die Städte und der Austausch“ und „Die andauernden Städte“.

Neuübersetzung entfernt sich weiter vom Text

Anders in der Neuübersetzung von Burkhart Kroeber?, der sich etwas weiter vom Text entfernt. Die eben genannten Kategorien übersetzt er wie folgt: „Die fragilen Städte“, „Die Städte und der Tausch“ und „Die fortdauernden Städte“. In dieser Auflage? werden zwar treffendere Wörter im Deutschen benutzt, jedoch entziehen sie sich zugleich dem breiten Interpretationsspielraum, wie er im Italienischen vorgegeben ist!

Bedeutet das, dass die Neuübersetzung nicht gelungen und der Neuübersetzer der größere Verräter wäre? Das ist damit nicht gesagt – zumal nicht, wenn man der Theorie Calvinos folgt: Burkhart Kroeber? macht ja nichts anderes, als diesem Werk? gleiche oder gar neue Wörter für neue Kombinationsmöglichkeiten zu geben. Gemäß Calvino wird die Geschichte anders beziehungsweise neu erzählt - und doch nach bestimmten Regeln.

Fazit: „Traduttore, traditore!“ ist in diesem Fall genauso richtig wie „Traduzione, combinazione“!

Literaturangaben

  • Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte. Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, München 2007. 176 S., 17,90 €, ISBN: 978-3446208285

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