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Dystopie

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Die Dystopie oder auch Anti-Utopie ist eine Sonderart der utopischen Literatur. Dystopien sind zweifelnde Gegenpole zu positiven Entwürfen zukünftiger Gesellschaften, konkret zu literarischen Idealgesellschaften bzw. Eutopien. Dystopische Literatur wird vor allem seit dem 19. Jahrhundert verfasst, aber bis in die Gegenwart fortgeschrieben; angepasst an und inspiriert von den je vorherrschenden technischen und wissenschaftlichen Innovationen wie auch gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen. Ein totalitärer Staat, die Versklavung der Menschheit, ein verewigter Kriegszustand sowie die Zerstörung der Lebenswelt sind typische Themen von Anti-Utopien.

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Entstehung und Entwicklung

Von der Dampfmaschine bis zum Computer: Neue Technologien und wissenschaftliche Durchbrüche haben zu allen Zeiten neben Begeisterung auch Bedenken ausgelöst, das seinerseits zum kreativen Nährboden der Literatur wurde: in Form so genannter Dystopien bzw. Anti-Utopien? insbesondere der phantastischen und Science Fiction-Literatur.

Geistige Ursprünge

Brave New World, Innentitel der Erstausgabe 1932 - (c) privat

Von diesen „Grundmauern“, diesen „Erdungen“ in den je aktuellen Entwicklungslinien von Technik und Gesellschaft, ist der „Dachstuhl“ literarischer Dystopien also nicht zu trennen: Wo keine Dampfmaschine, da keine – im Buch höchst mechanische – „Zeitmaschine“ von H. G. Wells? (Erscheinungsjahr 1895). Wo keine Computer, da keine phantastischen Visionen von Bewusstsein entwickelnden, ihre Schöpfer im Zweifel versklavenden Großrechnern. Schließlich: Wo keine autoritären Staaten oder Staatenbünde („Ostblock“), da keine düsteren Visionen von „Big Brother“-Überwachung („1984?“) oder Entmündigung des Bürgers durch dauerhafte Soma-Sedierung („Brave New World?“).

Es ist genau diese Verortung im lebensweltlichen und medialen? Erfahrungshorizont, die die Lesenden? wirksam in die anti-utopischen Szenarien einbezieht und ihnen im Einzelfall eine Identifikation? mit dem Gelesenen erlaubt.

Geschichtliche Initialzündung: Industrielle Revolution

Als Geburtsstunde der literarischen Dystopie gilt die Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Dieser große, kaum als organisches Wachstum zu bezeichnende Sprung von Handwerk und Landwirtschaft hin zu dampfgetriebener, maschineller und rasch massenhafter Fertigung führte nicht nur zu ganz neuen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, sondern auch zu nicht gekannten sozialen Schieflagen. Zweifel kamen auf an der Heilslehre steten Maschinen-Fortschritts. Zweifel, die die Initialzündung der geschriebenen Anti-Utopien gesellschaftlicher Evolution lieferten, welche später, im 20. Jahrhundert, durch die Genese der totalitären Systeme von Kommunismus und Nationalsozialismus, zusätzlichen, literarisch ebenfalls entsprechend verarbeiteten Nährstoff erhielten.

Wesensmerkmale der dystopischen Gesellschaft

Auch in – ökologischen, politischen und/oder technologischen – Endzeiten herrscht eine gewisse Regelhaftigkeit: Bestimmte Konstrukte begegnen dem Lesenden dystopischer Literaturen häufig.

Geschichtliches Zäsur-Ereignis / Katastrophe

In der dystopischen Gesellschaft hat meist ein Ereignis stattgefunden, nach dem „nichts mehr so war wie zuvor“. Oft nur als Vorgeschichte skizziert, kann diese Verwerfung sich aber auch gerade erst abzeichnen bzw. aktuell ablaufen – wie die Umweltkatastrophe im Öko-Endzeitthriller? „Der Schwarm“ von Frank Schätzing?. Typische Zäsur-Ereignisse sind Kriege, demographische Ungunstentwicklungen oder Naturkatastrophen.

Der autoritäre Staat

Zwar sind sie nicht immer gewalttätig (was bei den Bürgern von Huxley Aldous | Huxleys]] „Weltstaat“ in „Brave New World“ bspw. angesichts einer Ruhigstellung mit Konsum und Drogen auch gar nicht nötig ist), von demokratischer Teilhabe halten sie aber meistens wenig: Die Staats- bzw. Regierungsformen der literarischen Dystopien sind auffällig häufig autoritär, ihre Einwohner haben buchstäblich keine Wahl. Die Abwesenheit dessen, was man heute Zivilgesellschaft nennt, beschränkt sich dabei nicht nur auf die politische Sphäre (Parteiensystem, Pluralismus usw.): Der Leviathan der gesellschaftlichen Negativ-Utopie umfasst, in schlechtester totalitärer Tradition (Stichwort „Gleichschaltung“), alle Lebensbereiche: also auch Freizeit, Kultur, Sport – oftmals sogar Familie, Sexualität, Fortpflanzung. (Man denke nur an Huxley, in dessen „Brave New World“ Geburt nur noch im Reagenzglas stattfindet, Menschen, je nach ihrer zugedachten gesellschaftlichen Position, im Labor gezüchtet und konditioniert werden.)

Propaganda statt Presse

Zu der skizzierten Gleichschaltung gehört auch, dass es eine freie Presse nicht gibt. Mediale Multiplikatoren sind meist zu Sprachrohren der Herrschaftsdoktrin degradiert. Eine Zensur? findet ausdrücklich statt.

Schichtsystem

Dystopische Gesellschaften sind keine „integrierten“ sozialen Systeme, sondern setzen oft bewusst auf schichtbezogene Abgrenzung. Sie ähneln gelegentlich mehr einer Ansammlung von Parallelgesellschaften – Beispiel: die fünf Kasten in Brave New World (Alphas, Betas, Gammas, Deltas oder Epsilons), gezüchtet im Hinblick auf ihre spätere gesellschaftliche „Verwendung“. Oder: Eloi und Morlocks in H. G. Wells` „Zeitmaschine“, bei denen die Einen, nämlich unterirdisch hausende, affenartige Wesen, die Anderen, oberirdisch lebende, den Menschen ähnliche Wesen, wie Mastvieh zum Zwecke der eigenen Ernährung halten.

Verhältnis von Individuum und Kollektiv

Das Verhältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Kollektiv ist in der Dystopie meist diktaturentypisch: Die Sozialisationsinstanzen (Bsp.: die „Schlafschule“ in Brave New World) fördern Anpassung und Unmündigkeit statt Persönlichkeitsentfaltung. Stabilität ist ohnehin eines der wichtigsten Staatsziele, die erste Bürgerpflicht lautet somit: „Sei ein Rädchen im Getriebe und funktioniere kritiklos an dem für dich vorbestimmten Platze.“

„Held“

Schöne Frauen zu schützen ist in der Negativ-Utopie nicht sein erstes Anliegen: Der „Held“ (die Heldin) dieser Literatur lehnt sich gegen den Zustand seiner Welt auf. Sie/Er spürt oder erkennt, dass etwas „falsch“ läuft (bspw. autoritäre Unterdrückung, Freiheitsberaubung durch einen Staat) und etwas verändert werden muss. Zum Beispiel durch Attentate auf hochrangige System-Vertreter und die Mobilisierung der Massen, etwa in „V wie Vendetta“.

„Bösewicht“ / Personenkult

Big Brother is watching you: Meist gibt es eine negative? Galionsfigur, einen autoritären „Führer“ beispielsweise. Typischerweise wird dessen Verehrung staatlich verordnet und weist die Züge von Personenkult auf. Ein Beispiel ist der Große Bruder aus George Orwells? dystopischem Roman „1984“.

Bekannte literarische Dystopien

Herbert George Wells: “The Time Machine” („Die Zeitmaschine“)

Von Science Fiction sprach noch niemand, als der junge Schriftsteller Herbert George Wells? 1895 seinen Roman “The Time Machine” veröffentlichte: Gleichwohl sprach er selbst einmal von einem „wissenschaftlichen Abenteuerroman“ und begründete wichtige Kennzeichen des SF-Genres, etwa die zentrale Rolle technischer Apparate, die hier bereits im Titel angelegt ist.

Auch sonst scheint alles Gegenwartsbezogene in diesem Roman nachrangig: Das beginnt, besonders augenscheinlich, bereits bei dem Umstand, dass der geniale Tüftler und Zeitreisende, die Hauptfigur, im Buch namenlos bleibt (anders als in der ersten Verfilmung von 1960). Und sich ohne größere Testreihen seiner Maschine gleich zu Beginn auf eine Reise in die Zukunft macht, die ihn in das Jahr 802.701 n. Chr. führt.

Die Welt, die am Ende der Reise steht, ist geographisch noch immer das Themsetal, in dem sie begann: Doch hier enden die Gemeinsamkeiten. Sie scheint zunächst mehr Utopie als Dystopie zu sein: Wie im vermeintlichen Garten Eden lebt hier ein menschliches Volk namens „Eloi“ frei von Hunger, Not oder auch nur dem Zwang zur Arbeit.

Die Versorgung der Eloi übernimmt das zweite Geschlecht dieser Zweiklassenwelt: die Morlocks, affenartige Wesen, die unter der Erde hausen und sich die Eloi als Nutzvieh halten. In regelmäßigen Übertage-Jagden verschaffen sich die kannibalistischen Morlocks das Fleisch, das sie sonst mästen.

In der Literaturwissenschaft wird dieser – nun klar dystopische – Ausblick als Gleichnis auf die frisch industrialisierte britische Gesellschaft gedeutet, die, mit all ihren sozialen Schieflagen, die Lebenswelt des Autors bildete: Auch in der Frühphase des Kapitalismus schuftete eine Arbeiter-Unterschicht für den Wohlstand einer überschaubar großen gesellschaftlichen Gruppe. Beinahe schon dialektisch wirkt da der kannibalistische Ausbruch der Morlocks, die unter der Erde an riesigen Maschinen arbeiten, und auch auf diese Weise „ihre“ Eloi mit dem Lebensnotwendigen versorgen: die kommende Rache der Geknechteten an den (neuen) Herren des Industriezeitalters?

Aldous Huxley: “Brave New World” („Schöne neue Welt”)

“A squat grey building of only thirty-four stories. Over the main entrance the words, CENTRAL LONDON HATCHERY AND CONDITIONING CENTRE, and, in a shield, the World State´s motto, COMMUNITY, IDENTITY, STABILITY. (...)” Mit diesen Zeilen? beginnt einer der bekanntesten dystopischen Romane, die 1932 erstveröffentlichte “Brave New World” des Briten? Aldous Huxley? (Hervorhebungen im Original).

Die heute im deutschsprachigen? Raum übliche Übersetzung „Schöne neue Welt“, ist beinahe zum geflügelten Wort geworden: etwa um kritisch zu sehende gesellschaftliche Entwicklungen zu skizzieren. So ist denn auch Huxleys Gesellschaft, die sich „Gemeinschaft, Identität, Stabilität“ – typische, in literarischen Dystopien hoch gehaltene Ideale – auf die Fahnen (und über den Haupteingang ihrer „Zentralen Konditionierungs- und Brutanstalt London“) schreibt, alles andere als der derart propagierte stabile Idealzustand.

Die hier verwirklichte „schöne neue Welt“ ist eine dauernarkotisierte („Soma“, unterdrückt negative Gefühle) Konsumgesellschaft mit perfidem Sozialvertrag: Luxus, Drogen, Überwindung von Krankheit und Elend gegen die Aufgabe von Freiheit, Menschlichkeit, Religion und Kunst – also allen zentralen Werten, die mit Mündigkeit und Meinungsbildung im Zusammenhang stehen. Diese stünden, wie auch jede Form von Individualität, den gesellschaftlichen Leitmotiven von Community und Stability im Wege: Persönlichkeitsentfaltung, wie sie etwa einer der rebellischen „Wilden“ des Buch < Buches? fordert („Ich brauche keine Bequemlichkeit. (…) Ich will Sünde!“), ist „asozial“.

Philip K. Dick: “Do Androids Dream of Electric Sheep?”

Harrison Ford hat diesem 1968 erschienenen Buch bzw. seinem zentralen Protagonisten ein Gesicht gegeben, ohne das viele wohl kaum je von dem Buch „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ gehört hätten: Der dystopische Roman mit dem komplizierten Titel diente als literarische Vorlage für das von Regisseur Ridley Scott („Alien“) als „Blade Runner“ umgesetzte düstere Zukunftsszenario.

Im Buch-Original, das erheblich von der vereinfachten Handlung des Films abweicht, lebt die Menschheit – bzw. das, was von ihr übrig ist – in einer postnuklearen Nachkriegsendzeit, die kaum Hoffnung auf einen Ausgang aus selbst verschuldeter Zerstörung aufkommen lässt – im Gegenteil: Die radioaktive Verseuchung ist umfassend, Tiere sind beinahe ausgestorben, daher sind Haustiere seltene und äußerst teure Statussymbole.

Auch Kopfgeldjäger Rick Deckard (in der Scott-Verfilmung Harrison Ford) bezieht den Sinn seiner Existenz im Wesentlichen aus der Aussicht, sich von seiner Erwerbsarbeit irgendwann einmal ein echtes Tier leisten zu können: Deckard tötet Androiden, im Film Replikanten genannt. Diese künstlichen, aufgrund technischen Fortschritts im Grunde jedoch immer menschlicheren Wesen werden den Menschen, die die verstrahlte Erde in Richtung außerirdischer Kolonien verlassen, als Begleiter für gefährliche Arbeiten zugeteilt. Was sie in vielen Fällen zur Flucht zurück auf die Erde veranlasst – und damit zum „Fall“ für Deckard und seine Kollegen werden lässt.

Eine der zentralen und interessantesten Fragen, die das Buch von Philip K. Dick? aufwirft, ist jene nach dem, was den Menschen eigentlich zum Menschen bzw. „menschlich“ macht: Wie erwähnt, unterscheiden sich die neuesten Androiden-Modell im Verhalten kaum noch von ihren Schöpfern – sind etwa zu Willenshandlungen wie Rebellion und Flucht in eine erhoffte besser Zukunft fähig, weg vom Frondienst auf fremden Planeten.

Umgekehrt sind es die „Menschen“ dieser postapokalyptischen Welt, die ihr Schicksal eigentlich nur noch dadurch ertragen, dass sie ihre Gefühle mit Drogen manipulieren und sich von bewusst inhaltsleeren TV-Programmen berieseln lassen: die Alltagsflucht als Dauerzustand. Denn Hoffnung gibt es keine, in diesen kontaminierten Landschaften: Wer auf der Erde bleibt, wird vom radioaktiven Niederschlag früher oder später krank, und wie man aus den Kolonien erfährt, sieht es dort nicht wesentlich besser aus.

So ist es am Ende nicht mehr hundertprozentig klar, wer „künstlich“, wer „menschlich“ ist: Sind es wirklich Menschen, die hier Androiden jagen oder sind es im Grunde nicht Roboter, die Robotern nachstellen? Vielleicht erklärt sich ein Teil der „Leidenschaft“ der Androidenverfolger daraus, dass diese ihren Peinigern letztlich einen Spiegel vorhalten: „Schaut her: Ihr jagt, was ihr verloren habt – etwa den Willen und die Entscheidungskraft und die Hoffnung, aus einer mechanistischen, fremdgesteuerten Existenz auszubrechen.“

Alan Moore/Dave Gibbons: “Watchmen”

„Stell dir vor, es ist 1985 und der Kalter Krieg steuert einem Höhepunkt in Form eines nuklearen Schlagabtausches zwischen West und Ost zu“: Dies ist eine der ersten gedanklichen Transferleistungen, die die beiden britischen Autoren Dave Gibbons? und Alan Moore? in ihrem 1986 bis 1987 erschienenen Comic „Watchmen“ vom Lesenden verlangen. Die Schöpfer dieser preisgekrönten Graphic Novel? schaffen eine alternative Welt, in der globale Ost-West-Gegensatz in ganzer Schärfe fortlebt, die USA durch das Eingreifen eines Superhelden den Vietnamkrieg gewonnen haben und Richard Nixon entgegen der Verfassungsbestimmungen für eine dritte Amtszeit US-Präsident wird.

Die (zahlreichen) Figuren, mit mehr oder auch gar keinen (!) Superkräften, dafür im letzteren Fall umso mehr Kostüm und (Helden-)Werten ausgestattet, sind bei Gibbons und Moore nicht nur – comictypisch – mit Symbolik beladen: Sie weisen darüber hinaus höchst menschliche Züge auf, was Identifikationen? fördern kann und so Spannung erzeugt: Diese „Helden“ trinken, stinken (unter der Maske) oder töten, wie der „Comedian“ genannte Edward Blake, mit sichtlicher Freude und gebettet in ein nihilistisch-zynisches Weltbild im Regierungsauftrag.

Edward „The Comedian“ Blake ist es auch, der die Handlung des Comics ins Rollen bringt, durch seinen Tod: Der 67-jährige (!) „Super-Rentner“ wird ermordet, per Fenstersturz. „Rorschach“, ein anderer Superheld, von denen die meisten nicht mehr aktiv sind, vermutet ein (wie sich herausstellt, äußerst komplexes) Komplott, warnt die übrigen „Watchmen“, die es im Verlauf der Geschichte aufdecken.

In einem Showdown? in der Antarktis stellt sich den Helden die konfliktreiche? Frage, wie weit man gehen darf, wenn man Superkräfte hat („Dürfen Helden tun, was sie tun können?“) – es kommt darüber zum „Brudermord?“ eines der Heroes durch einen anderen. Watchman Adrian Veidt offenbart den übrigen Protagonisten, dass ein Atomkrieg nur abgewendet werden kann, wenn man die Sowjetunion und die USA zur Annäherung zwingt. Dafür müssen die „Blöcke“ einen gemeinsamen Gegner noch mehr fürchten, als sich selbst. Veidt zündet daher Bomben mit der Energiesignatur von Dr. Manhattan, einem anderen Watchman. Millionen Menschen sterben in verschiedenen Großstädten der Welt.

Verständigung, gar Einsicht in ein friedliches Miteinander sind den Mächten dieser Dystopie nicht gegeben: Erst müssen halb New York und Moskau zerstört werden, damit der im Jahr 1985 der Watchmen-Geschichtsschreibung (ohnehin) bereits fast eskalierte Kalte Krieg (The Comedian: „In ein paar Jahren fliegen die Atomraketen hier durch die Gegend wie Maikäfer“) eine andere Wendung nimmt.

Frank Schätzing: „Der Schwarm“

Vor der Küste Perus verschwinden mehrere Fischer spurlos, mutierte Gift-Quallen bedrohen Australien und norwegische Ölbohrer entdecken Eigenartiges: Würmer, die hunderte Quadratkilometer Meeresboden besetzt haben und beginnen, das im Meeresboden gebundene Methan zu zersetzen. Von Beginn an glauben einige Protagonisten nicht an einen ökologischen Zufall. Das bestätigt ein Tsunami, den die gefährlichen Organismen auslösen und der weite Teile Nordeuropas zerstört.

Durch die kontinentale Katastrophe aufgeschreckt, bildet sich eine multinationale Task Force aus Forschern, Diplomaten und Geheimdienstlern, die der biologischen Bedrohung auf den Grund gehen will. Den Experten gerät rasch eine fremde Intelligenz ins Visier, offenbar mit Bewusstsein ausgestattete gallertartige Einzeller, die sie „Yrr“ nennen. Es bildet sich die Theorie, dass diese Macht begonnen hat, sich gegen die vom Menschen verursachte, weltweite Zerstörung des ozeanischen Lebensraums zu wehren: die eingangs skizzierten Übergriffe durch Meeresbewohner als Aufstand der Natur gegen den Menschen, also.

Der „Schwarm“ (erschienen 2004) ist ein Öko-Endzeithriller?, der die Umweltkatastrophe literarisch dystopiefähig macht. Ein Aufklärungsroman, der die Menschen vor den Folgen ihrer Naturzerstörung warnt.

Stärken und Schwächen des Genres

Literarische Negativutopien sind zu allen Zeiten ein Abbild je geschichtlich aktueller, gesellschaftlicher Herausforderungen gewesen – bzw. genauer: der mit diesen Herausforderungen verbundenen Unsicherheiten und Sorgen. So, wie die beiden Weltkriege Angst vor einem militärischen Flächenbrand schufen (bzw. einen solchen als reale Zukunftsoption zeichneten), so ließen die totalitären Systeme des Kalten Kriegs Big Brother-Phantasien entstehen, also literarische Versionen unfreiheitlicher Überwachungsstaaten.

Mit dem Wegfall totalitärer Staaten zumindest in Europa verlagerte sich der Projektionsschwerpunkt: beispielsweise hin zu ökologischen Endzeitthrillern wie dem „Schwarm“ (F. Schätzing). „Big Brother is watching you“ würde, als literarische Dystopie, wenigstens im Europa der Gegenwart für viele Lesende wohl eigentümlich „überholt“ wirken. Die literarische Negativutopie wechselt also ihre Themen, passt sich ihrer Zeit an, stirbt aber nicht aus.

Als Schwäche wurde der literarischen Dystopie oft ihre prognostische Unschärfe vorgehalten: Totalitäre Systeme etwa, so ein Vorwurf, sind selten so monolithisch unangreifbar, wie sie nach außen wirken, da sie den Keim ihres eigenen Untergangs meist bereits in ihrer vorherrschenden Ideologie tragen. Ein Beispiel: Aller Personenkult, alles verordnete Jubeln und die Bemühungen, auch die alltägliche Lebenswelt ihrer Bürger bis hin zu klassischen Privatsphären wie der Freizeitgestaltung zu kontrollieren, nutzten dem kommunistischen Ostblock letztlich nichts, da dieser ökonomisch implodierte (Kosten des Wettrüstens; marode, unproduktive Wirtschaftsstruktur).

Solche prognostischen Schwächen verringern den Wert des Genres jedoch nicht, denn eines haben literarische Dystopien immer erfolgreich geleistet: aufmerksam zu machen, vor falschen Entscheidungen zu warnen, Risiken aufzuzeigen, bevor diese allzu manifest werden. Der große Wert der Gattung liegt darin, für Entwicklungslinien zu sensibilisieren, die bestimmte universelle Werte gefährden: Freiheit etwa („1984“), aber auch Gesundheit („I am Legend“) oder ökologisches Gleichgewicht („Der Schwarm“). Trotz Fehlprognosen sind dystopische Romane also weit mehr als „Pessimismus auf hohem Niveau“.

Literatur

  • Dick, Philip K. (1968): Do Androids Dream of Electric Sheep? New York City: Doubleday and Company
  • Huxley, Aldous (1932): Brave New World. Garden City, New York: Doubleday, Doran & Company, Inc.
  • Moore, Alan / Gibbons, Dave (2008): Watchmen. New York: DC Comics
  • Schätzing, Frank (2004): Der Schwarm. Köln: Kiepenheuer & Witsch
  • Wells, H. G. (1996): Die Zeitmaschine. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

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