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Gesammelte Werke

von<br> Ludwig Harig

Wer heute den Namen Ludwig Harig hört, der denkt an jenen Autobiographen, der mit seinen vier Lebensberichten „Ordnung ist das ganze Leben“ (1986), „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ (1990), „Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf“ (1996) und zuletzt „Und wenn sie nicht gestorben sind“ (2002) sowohl beim Publikum? als auch bei der Kritik großen Erfolg hatte. Dafür erhielt der Autor beispielsweise den Heinrich-Böll-Preis? (1987), den Friedrich-Hölderlin-Preis? (1994) und zudem eine saarländische Ehrenprofessur (1993).

Professor Harig istim Jahr 2007 81 Jahre alt. Seit 2004 wird ihm die Ehre zuteil, dass sich eine achtbändige Ausgabe? seiner Gesammelten Werke?, verantwortet von Gerhard Sauder? und finanziert durch Lottogelder von Saartoto, im Entstehen befindet. Glücklicherweise erscheint diese Ausgabe? im renommierten Hanser Verlag?, der für die publikumswirksame Betreuung seiner Autoren bekannt ist. Das lässt hoffen, denn allzu oft verschwinden Werkausgaben? (die zudem nur in kleinsten Auflagen? gedruckt werden) in den Regalen germanistischer Bibliotheken und allzu schnell auf den Verkaufstischen moderner Antiquariate.

Vorbild Gottfried Benn

Zur Halbzeit der Ausgabe? der Gesammelten Werke? von Ludwig Harig soll an dieser Stelle einmal Bilanz gezogen werden. In jedem Jahr erscheint ein Band, so dass damit zu rechnen ist, dass der Autor zum 85. Geburtstag ein großartiges Geschenk in den Händen halten wird. Eine Bibliographie? der Werke von Ludwig Harig, die zu seinem 75. Geburtstag erschien, verzeichnet fast einhundert selbstständige und über eintausend nicht selbstständige Veröffentlichungen, davon manches verstreut und entlegen gedruckt. Das meiste ist heute vergriffen. Darum kommen die Gesammelten Werke? der verdienstvollen Aufgabe nach, zu versammeln, was ihr Autor in knapp sechzig Jahren so alles geschrieben hat.

Der erste Band dieser Ausgabe? beginnt mit dem Abdruck der Prosa-Sammlung die „Reise nach Bordeaux“, die als erste große Veröffentlichung 1965 im Limes Verlag? erschien. Eine Taschenbuchausgabe sollte zwei Jahrzehnte später folgen. In seinem Nachwort? stellt Gerhard Sauder? die Hintergründe für die Veröffentlichung dieses – wenn man so will – konkreten? Textes dar. Auch wenn das dichterische Vorbild für Ludwig Harig einmal Gottfried Benn? war, so hatte er sich doch alsbald mit den Aspekten der Konkreten Poesie? beschäftigt. Bald gehörte er zur Stuttgarter Schule? um Max Bense?, die sich ausschließlich zum autonomen Wort bekannte.

Sein Buch „Reise nach Bordeaux“ also steht bis heute isoliert, wie etwa die wichtigen Romane „herzzero“(1968) von Franz Mon? und „D’Alemberts Ende“ (1970) von Helmut Heißenbüttel? oder mehr noch der Textband „fenster“ (1968) von Gerhard Rühm?. Konkrete Autoren? waren in den fünfziger Jahre extreme Außenseiter – und sind es heute immer noch. Ihre (und damit auch Harigs) literarische Vorbilder waren Gertrude Stein? und Ludwig Wittgenstein?.

„Schönes Niemandsland“

Bei Ludwig Harig kamen schnell Marcel Proust und Raymond Queneau? hinzu. Die „Pastiches“ (Die Lemoine-Affäre) erschienen 1969 in seiner Übersetzung in der angesehenen Bibliothek Suhrkamp? und sind heute in der Frankfurter Proust-Ausgabe im zweiten Band enthalten. Raymond Queneaus? „Exercices de style“ erschienen bereits 1961 in deutscher Übersetzung von Ludwig Harig und Eugen Helmlé? – ebenfalls bei Suhrkamp. Gerhard Sauder? erkennt völlig zu Recht, dass „die Literaturgeschichte der fünfziger Jahre bis jetzt höchst lückenhaft dargestellt worden ist“.

Folgerichtig schließen sich im zweiten Band Harigs Gedankenspiele und Gedichte an, die hier unter dem Titel „Schönes Niemandsland“ (so lautet der Titel eines Gedichts des Autors vom Oktober 2005) erscheinen. Es bleibt zu hoffen, dass der Autor für die jeweiligen Titel der Einzelbände selbst zuständig ist, denn eigentlich wirken sie etwas willkürlich. Im Nachwort? wird erwähnt, dass Harig lange Zeit nicht sorgsam mit seinen Gedichten umgegangen sei. Erst 1980 erschien die erste Sammlung unter dem Titel „Pfaffenweiler Blei“, die nun hier wieder zu entdecken ist. Gerhard Sauder? weist mit Witz und Kenntnis darauf hin, dass Harigs Lyrik aus Lehrgedichten? moderner Art besteht. Anzuempfehlen ist die letzte Gruppe mit verstreuten Gedichten aus den Jahren 1953 bis 2005, die hier überhaupt zum ersten Mal zum Abdruck kommt.

Es findet sich in diesem Band auch die „Allseitige Beschreibung der Welt zur Heimkehr des Menschen in eine schönere Zukunft“ (1974). Ob sein Wahlaufruf zwanzig Jahre später dieser schöneren Zukunft dienen konnte, bleibt offen. In einer Wahlanzeige für Lafontaine wurde Harig mit den Worten zitiert „Ich wähle Oskar, weil er ein Saarländer, ein Mensch ist!“ Dieser nicht eben sonderlich poetische Aufruf steht im Übrigen erstaunlicherweise neben drei Porträts (1987, 1990 und 1999) über diesen Politiker, die hier allerdings nicht mit abgedruckt worden sind.

„Hin- und Rückfahrten“

Ludwig Harigs Reiseerfahrungen und Reiseerzählungen liegen nun im vierten Band dieser Werkausgabe? unter dem Titel „Hin- und Rückfahrten“ vor. Dass überhaupt ein so selten gewordenes Genre, sieht man von den fragwürdigen Reise-Ergüssen zeitgenössischer Autoren einmal ab, in einem dicken Buch vertreten ist, grenzt an ein kleines Wunder. Reisetexte aus knapp sechzig Jahren sind hier auf über fünfhundert Druckseiten? versammelt. Darunter auch der bekannte großartige Text über die römischen Schutzgeister, der 1986 in der Pfälzischen Verlagsanstalt unter dem Titel „Die Laren der Villa Massimo“ erschien. Die darin enthaltenen Aufzeichnungen vom Mai 1970 sind jetzt neu ediert auf den Seiten 231 bis 234 zu finden. Leider fehlen in der Werkausgabe die Fortsetzungen vom 9. Oktober bis 5. November 1984, insgesamt zwölf Druckseiten?. Folgen sie in einem der späteren Bände?

Reisen steht für den Autor, so Benno Rech? in seinem Nachwort, in einem dialektischen Verhältnis zur Heimat. Reisen bedeutet eben Hinfahren und auch Zurückfahren. Max Bense? drückt es so aus: „Rückfahrten haben den Sinn, die Sätze empfindlich zu machen für lange Strecken und Höhenunterschiede“. Ludwig Harig erfindet ein Erzählen über das Reisen aufgrund einer Poetologie? im Sinne Max Benses?. Die Sprache wird für erzählte Bewegungen im Raum empfindlich gemacht. In dem bereits angesprochenen Gedicht „Schönes Niemandsland“ (2005) heißt es darum paradigmatisch:

Wer keine Heimat hat, lebt elend in der Brache:

Keine Fenster in die Welt: Das Fenster ist die Sprache,

der Laut der Poesie im schönen Niemandsland.

Selbstredend unterscheidet Ludwig Harig zwischen dem touristischen und dem empfindsamen Reisen. Und letzteres bedeutet für ihn ganz praktisch, dass erzählt und aufgeschrieben werden muss, was die Seele bewegt. Aus seinen Spurensuchen in die Vergangenheit macht er Reise-Erzählungen. Auf diese Weise wird er zu einem Zwitter aus Luftkutscher und Gedankenreisendem. Ganz in diesem Sinne ist er beeinflusst von Cervantes? und Grimmelshausen?, Jean Paul? und Friedrich Nietzsche, Max Bense? und Arno Schmidt. Denn sie alle haben ihre je eigene Welt erschaffen – sozusagen als Sprachreisende.

„Wer schreibt, der bleibt“

Harig hat eine entscheidende Entwicklung durchgemacht. Zunächst war er ja noch überzeugt von der Omnipotenz der Sprache und sah in der Autonomie des Wortes die Grundlage für sein Schreiben. Die Hinwendung zur französischen Literatur resultierte in viel gelobten Übersetzungen. Auch die späteren Erzählungen aus den neunziger Jahren zeigen ihn noch als Wahlverwandten der französischen Schriftstellergruppe „OULIPO?“.

Doch seit der Mitte der 1980er Jahre steht bei ihm das autobiographische Erzählen im Mittelpunkt und in dieser (für ihn neuen) Erzähltechnik hat er sich entschieden entfernt vom Gestus der so genannten experimentellen Literatur?. Über seine literarische Entwicklung und schriftstellerische Wandlung gibt der (im Rahmen der Werkausgabe? zuerst erschienene) achte Band „Wer schreibt, der bleibt“ mit Essays und Reden? vorzüglich Auskunft.

Der Text mit dem Titel „Wer schreibt, der bleibt“ bildet das Herz- und Kernstück dieser Sammlung. Gemeint sind damit ursprünglich fünf Vorlesungen im Rahmen von Poetik-Dozenturen Harigs aus den Jahren 1984 bis 1987, die unter diesem Titel zusammengefasst zuerst in der Wiener Zeitschrift „Wespennest“ erschienen. Hier zieht der Autor seine poetologische? Bilanz ausgehend vom Sprachspiel zwischen Poesie und Mathematik, über das Rauschen der Sinne zwischen Poesie und Leben, über den berechenbare Funken zwischen Poesie und Elektrizität, über das Verhältnis von Poesie und Politik und nicht zuletzt über die Grenzen zwischen Poesie und Komik. In diesem Band sind Auftragsarbeiten?, von der Rezension bis zur Laudatio?, umfassende Poetik-Vorlesungen, aber auch Texte über die Lust am Text (Harig über Harig) versammelt.

Lektüresozialisation und intellektuelle Erfahrung

Werner Jung?, der Herausgeber? dieses Bandes, schreibt in seinem Nachwort?: „Hintereinander gelesen ergeben diese Texte das Porträt eines Schriftstellers, der seine eigene Entwicklung beschreibt, sich über die Schulter sieht, dabei nicht zuletzt seine Lektüresozialisation und intellektuellen Erfahrungen verratend: hemmungslose Begeisterung und sanfte Abstrafungen, in jedem Fall eine lebenslange Liebe zur Sprache, zum Wörterspiel und seinen unauslotbaren Möglichkeiten.“

Diese hemmungslose Begeisterung gilt etwa dem bereits genannten Textband „fenster“ von Gerhard Rühm?, den Harig begeistert im September 1968 für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ rezensierte. Darin schreibt er: „Rühms Versuche mit der Sprache zu laborieren, das heißt Sprache neu zu machen, zu verändern, zu bewegen, selbst sich bewegen zu lassen, zeigen sich als progressive Züge nach vorwärts und zeigen zugleich in den zur Wirksamkeit gebrachten experimentell (konstruktivistisch, wie Rühm es sagt) angelegten Sprachspielen die verschiedenen neuen Aspekte der zeitgenössischen Literatur.“ Das Lob über Rühm? könnte genauso als Selbstaussage für die frühen Texte Harigs gelten.

Das Werk? von so unterschiedlichen Autoren wie Peter Bichsel, Ingomar von Kieseritzky? und Hermann Lenz? begleitet Ludwig Harig regelmäßig durch Besprechungen. Deutlich werden immer wieder die Bezugspunkte in der französischen Literatur: Montaigne? und Rousseau?, Flaubert? und Proust, Alfred Jarry? und Albert Camus, vor allem Raymond Queneau?.

Ankunft im germanistischen Wissenschaftsbetrieb

Zu bemängeln ist leider, dass in dieser Werkausgabe? jedes editorische Wort fehlt. Es gibt jeweils ein Nachwort? und einen (wichtigen) Stellenkommentar?. Leider ist auch nicht abzusehen, wie die Ausgabe? sich weiter gestaltet, denn es gibt auch keinen Editionsplan. Die gesamte Ausgabe? wird zwar nicht das Gesamtwerk?, aber sicherlich den größten Teil des literarischen Schaffens Ludwig Harigs abdrucken. Die achtbändige Ausgabe? der Werke von Ludwig Harig ist eine kommentierte Studienausgabe?, der viele Leser (vor allem der nachwachsenden Generation) zu wünschen sind. Jeder Band umfasst ungefähr fünfhundert Seiten? und ist gut ausgestattet, sorgfältig gedruckt?, gut gebunden? mit jeweils schön gestaltetem Schutzumschlag?. Wer 130 Euro zur Verfügung hat, sollte sich die ersten vier erschienenen Bände schleunigst kaufen.

Schon vor fünf Jahren ist ein Verzeichnis der Schriften Ludwig Harigs von Werner Jung? und Marianne Sitter? im Aisthesis Verlag? erschienen. In einer unglaublichen Fleißarbeit haben die beiden Literaturwissenschaftler? diese Bibliographie? erstellt. Der ebenso fleißige Autor hatte bis zum Erscheinen der Bibliographie? bereits 71 Buchveröffentlichungen, acht Editionen, 117 (selbständige und unselbständige) Veröffentlichungen und über 1.300 poetische und wissenschaftliche Einzeltexte vorgelegt. Die Sekundärliteratur? dürfte heute bei einhundert Eintragungen liegen. Damit ist Ludwig Harig lange schon im germanistischen? Wissenschaftsbetrieb angekommen. Diese „Bibliographie Ludwig Harig“ bildet im Übrigen ein (wenn nicht gar das) textologische? Fundament für die Ausgabe? seiner Gesammelten Werke?.

Literaturangaben

  • Jung, Werner (Hrsg.): Ludwig Harig: Gesammelte Werke. Band VIII: Wer schreibt, der bleibt. Aufsätze und Vorträge. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2007. 528 S., ISBN: 978-3446202894
  • Jung, Werner / Sitter, Marianne (Hrsg.): Bibliographie Ludwig Harig (1950-2001). Bibliographien zur deutschen Literaturgeschichte Band 12. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002. 339 S., ISBN: 978-3895283635
  • Rech, Benno (Hrsg.): Ludwig Harig: Gesammelte Werke. Band IV: Hin- und Rückfahrten. Reiseerzählungen. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2007. 526 S., ISBN: 978-3446209374
  • Sauder, Gerhard (Hrsg.): Ludwig Harig: Gesammelte Werke. Band I: Familienähnlichkeiten. Deutsch-französische Sprachspiele. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2005. 492 S., ISBN: 978-3446206151
  • Sauder, Gerhard (Hrsg.): Ludwig Harig: Gesammelte Werke. Band II: Schönes Niemandsland. Gedankenspiele und Gedichte. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2006. 509 S., ISBN: 978-3446207844

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