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Gewalten. Ein Tagebuch

von<br> Clemens Meyer

Gewalten. Ein Tagebuch, Buchcover - (c) S. Fischer Verlag

Irgendwo im Untergrund der persönlichen Sachen, im Sammelsurium von Angeeignetem, im Inventar der Habseligkeiten findet es sich fast überall: das Tagebuch. Ein Medium zur Selbstmitteilung, welches gleich einem Pilzgeflecht alle literarischen Formen durchdringen und sich zu Nutze machen kann. Reflexionen, Bekenntnisse?, Pamphlete?, Tagesbeschreibungen, philosophische Analysen, Gedichte, Träume, Prosaskizzen, fixe Ideen – alles kann dort Platz finden. Nicht wenige Tagebücher haben großen Bekanntheitsgrad erlangt. Man sucht vor allem Antworten auf zeitrelevante Fragen in ihnen. Denn sie entstehen in einem Kontext von aktuellen Ereignissen, welche kommentiert und bewertet werden.

"Gewalten" spielen eine Rolle im Tagebuch von Clemens Meyer, das im März 2010 erschien. Ereignisse der Gewalt gab es im Jahr zuvor einige. Namen von Menschen und Orten verbinden sich mit ihnen und blitzen wieder auf in den 11 Geschichten Meyers: Kampusch, Fritzl, Winnenden, Kurnaz, der Fall Michelle – um nur einige zu nennen. Daneben tritt das Meyersche Klientel, was man aus seinen Vorgängerwerken kennt – sein Hund Piet, Chemie Leipzig (heute 1. FC Sachsen Leipzig), die Jockeys auf den Rennpferden, die Freunde, die Spieler und Taxifahrer.

Clemens Meyer streift chronologisch durchs Jahr 2009 und spürt das Gewaltige auf. Sein Buch erscheint im Rahmen des Tagewerk-Projekts, das die Guntram und Irene Rinke Stiftung durchführt. Mit einem Stipendium unterstützt, schreibt ein Schriftsteller über das vor ihm liegende Jahr. 2010 wird Alexander Osang dokumentieren, 2011 Patricia Görg. Die erste Story – oder der erste Eintrag – steht gleichnishaft für die Erzählposition des Autors von „Gewalten“: Nach durchzechter Nacht landet ein junger Mann festgeschnallt im Bett einer Psychiatrie. Er versucht sich freizumachen, gleichzeitig rauschen private und tagespolitische Bilder in seinem Kopf hin und her. Den Repressalien der Ärzte begegnet er am Ende mit dem Satz: „Ich bin noch da, ihr Schweine!“ Damit ist der Startschuss gegeben für die sprachgewaltigen Wortlabyrinthe Clemens Meyers. Die Perspektiven, Realitäten und Zeitebenen vermischen sich und existieren nebeneinander im Kosmos seines Tagebuchs. Eine Technik, die er schon in „Als wir träumten“ und „Die Nacht, die Lichter“ anwandte und die trotzdem nichts von ihrer Wirkung eingebüßt hat.

Doch wie nähert er sich dem Stoff, der in seinem Tagebuch Platz findet? Meyer schreibt über die Erlebnisse Kurnaz’, allerdings in Form einer Drehbuch-Skizze. Stakkatoartig und atemlos folgt er seinem Protagonisten durch die amerikanische Justizmaschinerie. Dazu verschanzt er sich in ein Leipziger Hotel, in dem man das Übernachtungsgeld in einen Automaten wirft. Einsamkeit und Anonymität, um dem Schreibtisch zu entkommen, der von ausgeschnittenen Zeitungsmeldungen umgeben ist. In der nächsten Story „German Amok“ beschreibt er ein gleichnamiges fiktives Computerspiel, in dem man einen Amoklauf strategisch plant. Alle Umstände und Vorgänge der Taten von Winnenden oder Erfurt sind in das Spiel integriert. Das klingt zynisch, könnte man meinen. Aber dieser Kunstgriff zeigt auch die Banalisierung und Funktionalisierung vom Bösen, von unkontrollierbaren Gewalten, wie sie doch zunehmend stattfinden.

Eine solche übermächtige Kraft ist auch der Tod, der uns in Meyers Tagebuch oft begegnet. Dort wird es persönlich, wie es scheint. In einem Hospiz im „sächsischen Bergland“ begegnet Meyer der Scham eines langsam sterbenden Freundes. Gleichzeitig trifft er sich mit dem gleichen Freund in einer Bahnhofsbar. Die Bar, in der man die Toten trifft – so erfährt der Leser in einer anderen Geschichte. Es gibt mehrere solcher Orte oder Ereignisse, die als verbindende Elemente des Erzählten fungieren. Die Bar im Bahnhof, die fruchtbaren Böden der Börde, die Zeitungsausschnitte überm Schreibtisch oder der Kokon sich paarender Schnecken. Es lässt an Episodenfilme erinnern, in denen auch häufig willkürliche Verbindungsstellen auftreten. Das schafft ein Bewusstsein der Gleichzeitigkeit und Heterogenität der einzelnen Lebensabschnitte.

Nachdem sein Freund begraben ist, widmet sich Meyer im Folgenden dem „Fall M“. Er nimmt fiktiven Kontakt zum Mörder des kleinen Mädchens Michelle auf, stellt ihm Fragen, versucht aus seiner Person heraus zu schreiben, die Tat nachzuzeichnen. Abläufe, Empfindungen, die Augenblicke, in denen sich die Gewalt Bahn bricht – das alles liegt unter dem Seziermesser des Autors. Das Bahnbrechende spielt vor allem in der Story „Tribünen“ eine Rolle: Ausbrechende Pferde auf Rennbahnen, die unter Peitschenhieben den Wettenden, die auf den Rängen stehen, möglicherweise zum Glück verhelfen. Hinter den kühlen Berechnungen, den Quoten und Statistiken steht die Gewalt des Zufalls. Und auch der Fußball findet zwischen den Tribünen statt, die meist mit verfeindeten Fangruppen besetzt sind. Konkret meint Meyer den 23. August 2009: Das Spiel zwischen dem 1. FC Sachsen Leipzig und Lokomotive Leipzig. Dieses Lokalderby wird zum Ereignis einer geteilten Stadt stilisiert. Eine unsichtbare Mauer läuft durch Leipzig: „durch Viertel, Straßen, Wohnungen, Fabriken, Straßenbahnen, Familien, Grünanlagen, Eisdielen, Gespräche, Kneipen, Schulen, Köpfe“.

Neben den Gewalten, den körperlich-nackten und metaphysisch-schicksalhaften, ist das Reisen ein weiteres Thema des Buches. Es geht durch die ostdeutsche Provinz, nach Hannover, Berlin oder mit dem Kanu durch die Leipziger Kanäle. Es brechen Visionen vergangener Szenarien wieder auf, ob aus dem Zweiten Weltkrieg oder dem Mittelalter. Alles geschieht in jener exaltierten und doch präzisen Sprache Meyers, die das Hereinbrechen des Ungeheuren zelebriert und wieder auflöst in Melancholie und poetische Detailverliebtheit. Oft beweist Meyer aber auch einfach nur Humor?.

Wer das Werk auf Referenzialität? abklopfen will, wird auch da fündig. Jurek Becker, F. Scott Fitzgerald? und der immer noch weitgehend unbekannte Autor Hans Henny Jahnn? werden zitiert sowie zahlreiche Filme. Doch am Ende, nach der Entfaltung von 2009 durch die Augen Meyers, steht der Autor selbst vor dem Vertrauten und ist außen vor. Die letzte Story, in der Meyer sich mitten in der Nacht versehentlich aus der eigenen Wohnung ausschließt, heißt bezeichnenderweise „Draußen vor der Tür“. Sein alter und angeschlagener Hund beobachtet ihn, wie er bei sich einbricht. Vielleicht geht es bei Tagebüchern immer darum: das Eigene zurückzuerobern.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

MEYER, CLEMENS: Gewalten. Ein Tagebuch. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 192 S., 16,95 €.

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