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Großmama packt aus

von<br> Irene Dische

„Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen. Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit ermordet. Darüber später mehr.“ - Das ist der Auftakt zu einer grandiosen Tragikomödie?, die auf sehr persönliche Weise über Nationalsozialismus, Krieg, Flucht und Vertreibung, KZ, Emigration, Emanzipation und Flower-Power erzählt.

"Darüber später mehr"

Irene Disches Großmutter Elisabeth Rother, geborene Gierlich, berichtet aus dem Jenseits über ihr Leben. Dieser Kunstgriff macht die deutsch-jüdische Familiengeschichte ganz und gar einzigartig. Die Enkelin setzt sich dem subjektiven, vorurteilsgeladenen und unbarmherzigen Blick der Großmutter aus und umschifft somit die Gefahren gängiger Autobiographien: nämlich, sich selbst zu wichtig zu nehmen und sich in Details zu verlieren.

Der 1952 geborenen Schriftstellerin Irene Dische ist eine Rückschau gelungen, die mittels Übertreibung nicht nur dokumentiert, sondern interpretiert, zu urkomischen Sequenzen führt und tieftraurige Momente enthält. Aus dem Munde ihrer verstorbenen Oma klingt sogar das Schwere leicht. Denn diese behält ihren Plauderton auch vor dem Hintergrund von Auschwitz bei. Großmama greift vor und blickt zurück und vertröstet den Leser immer wieder: „Darüber später mehr.“

Die Berichterstattung

Ironisch, manchmal gar zynisch, witzig und süffisant erzählt die Großmama von der Verfolgung durch die Nazis, von der Flucht ihres Mannes über Frankreich in die USA. Sie palavert über ihre Tochter Renate und über ihre zwei Enkel, vor allem über Irene, und beschreibt wie sie den jüdischen Arzt Carl Rother kennenlernt, ihm vom Rheinland nach Oberschlesien folgt und ihn heiratet. „Als wir uns kennenlernten, war ich jedenfalls bildschön. In meiner Familie galt ich immer als die Schönste weit und breit; nach mir ging es bergab. Das klingt vielleicht eitel, aber ich bin bloß objektiv.“

Großmutter war Krankenschwester in einem Feldlazarett im Ersten Weltkrieg und assistierte dort ihrem zukünftigen Ehemann, der ihr zuliebe zum Katholizismus konvertiert. Das zählt für die Nazis jedoch nicht – für die Rothers unbegreiflich. „Politik interessierte mich nicht. Ich hörte kein Radio. Hitler mochte ich nicht, weil mir seine Stimme zuwider war. Ein Schreihals.“

Emigration

Carl, dessen gesamte Familie später von den Nazis ermordet wird, erkennt 1936 die Gefahr noch immer nicht, während Elisabeth ihren Mann zur Flucht drängt. Zu diesem Zeitpunkt hat Carl Rother seine Anstellung als Leiter des Städtischen Krankenhauses in Leobschütz und seine Professur an der Universität in Breslau schon verloren. Die Tochter Renate muss die Klosterschule 1938 verlassen, weil herauskommt, dass sie Halbjüdin ist. Elisabeth lehnt die Scheidung von Carl ab - aus religiösen Gründen und vor allem, weil sie ihn liebt.

In dieser Zeit, als Carl schon in New York ist, lügt Elisabeth im beinahe täglichen Gestapo-Verhör um ihr Leben. Als emotionale Reaktion auf die perfide Bedrohung und Belästigung durch die Braunen kauft Elisabeth Rother jede Woche ein paar weiße Handschuhe – Sinnbilder der reinen, unschuldigen Hände. „Vater ich habe gelogen“, so betet sie wie einen Refrain. Währenddessen erhält Carl in New York nach zwei gescheiterten Anläufen die Zulassung als Arzt.

Literarisches Schwergewicht

Schließlich gelangt auch Elisabeth mit der Tochter Renate nach New York, wo die Enkel Carl und Irene geboren werden. Die Ansichten der Großmama über ihre afroamerikanischen und jüdischen Nachbarn hier sind alles andere als koscher. Elisabeth neigt trotz Verfolgung zu Deutschtümelei. Auch als die Familie nach New Jersey zieht, wo sie einen Neuanfang wagt, bleiben die Vereinigten Staaten für die Oma eine „wenig kultivierte Gegend“.

Ihr „boshafter Witz, gepaart mit einem goldenen Herzen“, macht Großmutter zu einer starken literarischen Figur. Auch physisch ist sie kein Leichtgewicht. Weil sie auf das Gebäck ihrer Haushälterin Liesel schwört, ist Großmama schon rund, bevor sie überhaupt Oma wird. Sie erhält den Beinamen „Mops“ und behält ihren Biss, selbst als sie alle Zähne verloren hat. Man kann sich darauf verlassen: Elisabeth Rothers Kommentare sind immer al dente. Ihr Bericht ist gespickt mit kleinen Gemeinheiten. Jeder kriegt sein Fett weg, nur Oma nicht. Als sie um die 60 ist, bringt es Großmama auf 220 Pfund. Erst im Alter von 75 tritt sie den Weight Watchers bei und halbiert ihr Körpergewicht.

Sex und Sünde

Schon früh wurde Großmama Elisabeth von ihrer eigenen Großmama über ihre Rolle als Frau aufgeklärt. „Mein bloßes Aussehen müsse, sobald ich irgendwo erscheine, die Männer veranlassen, unwillkürlich an ihre Hose zu greifen und zu prüfen, ob sie auch zugeknöpft ist. Als sie mir das erklärte, war ich sieben.“ Das Geschlechtsteil ihres Mannes nennt Elisabeth das „Tier“. Die Männer sind schwach, weil deren Fleisch schwach ist. „Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, dass die Familie ihr Niveau hält. Männer sind nicht stark genug.“

Elisabeth schwört auf Etikette. Die Frauen achten darauf, dass die Männer keine Fisimatenten machen. Doch Elisabeth Rother lernt noch im hohen Alter dazu: „Ich hatte wieder angefangen, das Time Magazine zu lesen und hatte begriffen: Sex war natürlich.“ So verzeiht sie Carl im Nachhinein einen Seitensprung und auch sein Verhältnis mit einer reichen Gönnerin, die er kennenlernt, als er in der Neuen Welt ankommt. „Ich hatte mich an Carl versündigt, hatte ihn zu unnatürlicher Enthaltsamkeit gezwungen. Vater, ich habe gesündigt. Aber jetzt kann ich nichts mehr daran ändern.“

Die unmögliche Enkeltochter

„Die Frauen in der Familie waren immer stark.“ Diesen Anspruch erhebt Elisabeth auch an ihre Enkelin. Denn als Kind erscheint Irene der Oma wie ein Feigling. Doch als die heranwachsende Irene ihre Ängste verliert, ist es Oma auch nicht recht. Die Enkelin wird gleich so flügge, dass sie wegen Landstreicherei schon mit 16 zum ersten Mal im Knast landet. Sie ist ein Hippie-Mädchen, das am Strand von New Jersey leben will. Deshalb muss sie eine Therapie für „gestörte Teenager“ über sich ergehen lassen, bevor sie sich nach Europa absetzt und danach den Nahen Osten bereist. Auf dem Rücksitz kutschiert sie ein Motorradfahrer über die Türkei bis in den Iran und Afghanistan.

Wieder in den USA versucht sich Irene als Zimmermädchen, als Tellerwäscherin und Versicherungsvertreterin. Sie fliegt aus jedem Job, worauf sie sich wieder auf die Reise macht. In Kenia findet sie schließlich eine Assistentinnenstelle bei einem Primatenforscher. „Meine unmögliche Enkeltochter.“ Die Enkelin ist die Ausreißerin, ein schwarzes Schaf unter den schwarzen Schafen der Familie. Sie ist überaus intelligent, pfeift jedoch auf den Schulabschluss und behauptet dennoch stur ihr Ziel, in Harvard studieren zu wollen, was ihr letztlich auch gelingen wird.

Die Tochter Renate

Dass Irene keinen Highschool-Abschluss hat, dafür macht Großmama ihre Tochter und den Schwiegersohn verantwortlich. Weder Renate noch ihr jüdischer Mann, den Großmama Rother nur „Dische“ nennt, haben genug Zeit für ihre gemeinsame Tochter. Irene habe schlechte Vorbilder: Dische und Renate, die an Leichen herumschnippelt, wie Großmama über den Beruf ihrer Tochter - Pathologin - zu urteilen pflegt.

Renate sieht und erzieht ihre Kinder mehr im Seziersaal als zuhause. Irenes Vater ist ein begnadeter Wissenschaftler. Ein „verrücktes Genie“, 25 Jahre älter als Renate und eine Koryphäe auf dem Gebiet der Biochemie, das als Folgeerscheinung ernährungswissenschaftlicher Selbstversuche „ständig auf dem Klo sitzt“. Als Renate sich scheiden lässt, frohlockt die Großmutter. Doch Renate wird noch zweimal in ihrem Leben heiraten, zuletzt im Alter von 70 Jahren.

Geringe Spermiendichte

Carl Rother, der Großvater, stirbt 1963 an Krebs, nicht mehr jung und noch nicht alt. Als Arzt hat er sich der ständigen Strahlung beim Röntgen ausgesetzt. Daher die geringe Spermiendichte und baldige Unfruchtbarkeit. Denn in den 1920er Jahren waren die Gefahren radioaktiver Strahlen noch nicht bekannt. Weil Irene das Kind eines Einzelkindes ist, sei sie so schwierig, meint Großmama. Der erste Satz des Romans findet in dieser Begründung seine Auflösung. Plausibel klingt die Erklärung allerdings nur aus Elisabeths Mund. Was Renates Einzelkind-Dasein mit Irenes Widerborstigkeit zu tun hat, bleibt das Geheimnis der Großmutter. Dennoch: Der Auftakt? gehört trotz mangelnder Logik zu den originellsten Romananfängen überhaupt.

Am Ende wird Großmama stolze 96 Jahre alt. Damit überlebt sie ihren Mann um Jahrzehnte, obwohl sie schon mit 35 jedes kommende Jahr als ihr Todesjahr zelebriert. „Himbeergeist bringt einem näher zu Gott“, meint Frau Rother und stirbt tatsächlich nach einem Schluck Schnaps, der ihr Herz zum Stillstand bringt, sie aber nicht vom Plaudern abhält. Sie blickt aus dem überkonfessionellen Himmel herab. „Manchmal hat mich meine Erinnerung wohl auch getäuscht, und gelegentlich habe ich die Dinge zum Spaß ein bisschen geändert. Sünde der Lüge.“ Somit erhebt die Autorin Irene Dische keinen Anspruch auf die autobiographische Wahrheit.

Ironie, Satire, Travestie

Ironie?, Satire, Abrechnung mit der Nazi-Zeit: So rund die Großmama ist, so rund ist Irene Disches Roman, der aber zugleich Ecken und Kanten hat. Elisabeth Rother ist alles andere als politisch korrekt. In den USA fand Irene Dische zunächst keinen Verleger, weil man ihr Antisemitismus vorwarf. Dische polarisiert – die einen verurteilen ihren Schreibstil als Travestie, die anderen werten ihn als satirische Übertreibung.

Mittels übertriebener rassistischer Bemerkungen der Großmama macht Irene Dische auf die in unserer Gesellschaft herrschenden subtileren und versteckten Formen des Antisemitismus aufmerksam. Großmama Rother spricht aus, was viele Unbelehrbare denken und nicht zu sagen wagen. Das ist Irene Disches Art, Kritik zu üben. Ein Spagat zwischen Holocaust-Verarbeitung und guter Unterhaltung gelingt.

Erzählinstrumente

Als musikalisch wie schriftstellerisch hochbegabtes Talent hat Irene Dische alles aufeinander abgestimmt: Die Erzähl-Instrumente, die Sprachmelodie, die Komposition des Plots, die Einbeziehung der Leser, die Zwischentöne, die Oma als Interpretin und deren verbale Paukenschläge. Zum Schmunzeln und Lachen und zum Nicht-mehr-Lachen, wenn einem Großmamas bissige Happen im Halse stecken bleiben. Eine packende anekdotenreiche Familiengeschichte, die alles hat: Witz und Charme, Spannung und Tiefgang. Irene Dische schreibt grandios und immer gegen den Strich. „Großmama packt aus“ ist himmlisch und die Enkelin ein ir-Disches Gedicht: hintersinnig, feinsinnig, tragisch.

Literaturangaben

  • Dische, Irene: Großmama packt aus. Roman. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 368 S., 9,50 €, ISBN: 978-3-423-13521-47

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