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Essay: Der bürgerliche Habitus in der Literatur des 19./20. Jh.

Habitus - eine Definition

Der Habitus bezeichnet die Gesamtheit bestimmter Verhaltensweisen eines Menschen. Dieser Begriff wurde von Pierre Bourdieu? geprägt. Nach Bourdieu bezeichnet der Habitus beispielsweise die Art und Weise zu sprechen, sich zu kleiden, diese oder jene Musik zu hören und die Auswahl der Bücher, die man liest (Bourdieu 1966: 42ff; Bourdieu 1997: 59ff).

Tod in Venedig, Filmplakat - (c) Warner Home Video

Ein Beispiel: Gustav von Aschenbach, Protagonist in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“, pflegt einen bestimmten Habitus, mit dem er sich stellvertretend für seine Klasse als Bürger von anderen Klassen unterscheidet und abhebt. Aschenbach präsentiert so wie in einem Pop-up-Fenster individuelle Signale, die ihn als Prototyp eines Bürger ausweisen.

Der bürgerliche Habitus als Phänomen der Fiktion

Wenn der Habitus der bürgerlichen Klasse im Habitus der europäischen und nordamerikanischen Literatur spätestens seit dem 19. Jahrhundert dominant wird, dann entsteht - so die These dieses Artikels - der sogenannte bürgerliche Habitus in der europäischen und nordamerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieser bürgerliche Habitus in der Literatur steht auch für die Art und Weise einer Klasse sich ausdrücken, sich zu kleiden, diese oder jene Musik zu hören – nur eben alles auf der kollektiv-vermittelten Ebene der Fiktion (vgl: Nickl 2001: 1ff).

Weitere Beispiele: Aschenbach sucht Adonis und der diskrete Charme der Buddenbrooks

Thomas Mann - (c) S. Fischer Verlag

Das große Werk des Kaufmannssohns Thomas Mann ist ein reiches und beispielhaftes Wörterbuch des bürgerlichen Habitus in der Literatur. In der Novelle „Der Tod in Venedig“ (1913) kommt schleierhaft die dezente Liebe eines Mannes im mittleren Alter zu einem jungen Adonis zum Ausdruck. Dieser narrative? und stilistische Habitus ist auch ein historisches beispielhaftes Dokument, wie mit gleichgeschlechtlicher Liebe am Anfang des 20. Jahrhunderts im Bürgertum umgegangen wurde.

Der bürgerliche Habitus in der Literatur verständigt das Bürgertum so mit sich selbst. Die Liste? dieser Vermittlungen lässt sich beliebig fortsetzen: der Umgang mit Geld, das Verständnis von Familie, Freundschaft und Untreue sind im bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts, wie im Sittengemälde „Buddenbrooks“, feste Größen der Diskussion über die Plattform Literatur. Was wird dabei vermittelt? Vor allem eine protestantische Arbeitsethik als Pflichterfüllung aus Einsicht, die auch das künstlerische Arbeiten einschließt und so die leidenschaftliche, kreative Hingabe zur guten bürgerlichen Tugend macht und die individuelle und kollektive Ordnung ermöglicht und absichert (Lukacz 1971: 82ff; zdf 2010).

Vorgeschichte

Wenn hier behauptet wird, die Literatur als Gattung hätte einen bis heute andauernden bürgerlichen Habitus durchlebt, dann sprechen dafür verschiedene Argumente.

  • Der bürgerliche Habitus hatte mit dem Buchdruck 1445? und der Einrichtung und Ausweitung der Universitäten vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert wichtige Schwellen genommen, um sich festzusetzen.
  • Zum einen war für das Bildungsbürgertum schon seit dem Mittelalter? Bildung und damit Literatur das Leistungsmedium überhaupt (Nassehi 2008: 133ff). Bildung adelte die neuen bürgerlichen Emporkömmlinge. Und Bildung wurde über Literatur, über Bücher vermittelt. Die Gnade der Geburt wich langsam, aber sicher dem Leistungsprinzip im Bildungssystem, das sich im System der Lohnarbeit fortsetzte. Dieser Apparat heißt heute Wissensökonomie.
  • Schreiben Bürgerliche nun selber Literaturgeschichte und inthronisieren bürgerliche Helden (Bürgerliches Trauerspiel?), dann doppelt sich ihr individueller Habitus produzierend und rezipierend zu einem kollektiven Habitus, der sich in der Literaturgeschichte als bürgerlicher Habitus und als Zeitgeist idealisierte und in Bücherform materialisierte.

Entwicklung: Habitus der Freiheit und Unfreiheit

Der bürgerliche Habitus in der Literatur ist seit seiner Entstehung bis heute in Westeuropa und Nordamerika vorherrschend geblieben, weil das Bürgertum nach wie vor sozial, wirtschaftlich und eben kulturell die Alltagswelt, die Bildungsinstitutionen und damit den Überbau dominiert. Die Widersprüche der bürgerlichen Klasse, die im 19. Jahrhundert endgültig an die Macht stürmte, entluden sich so umso mehr im 20. Jahrhundert. Der bürgerliche Habitus ist in mehreren literarischen Teilepochen des 19. und 20. Jahrhunderts wie im Biedermeier? und im bürgerlichen Realismus ablesbar dominant, aber auch aufreizend widersprüchlich.

Das 19. Jahrhundert: Biedermeier vs. Revolution

Ein gutes Beispiel für die frühe Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Habitus in der Literatur sind die zeitlich parallel verlaufenden Strömungen des Biedermeier und des Vormärz in den Jahrzehnten vor der 1848er Revolution. Der Biedermeier ging dabei durch seinen spießbürgerlichen Nachgeschmack in die Geschichte ein. Der Biedermeier umfasste Literatur, Mode, Architektur und Musikformen, also gerade die Ausdrucksformen des bürgerlichen Habitus.

Georg Büchner, Biographie-Cover - (c) Rowohlt Verlag

Zeitgleich und antagonistisch dazu stand der Vormärz mit Heinrich Heine (Sohn eines Tuchhändlers) und Georg Büchner (Arzt-Sohn) für einen Habitus, der auf revolutionäre Veränderung ausgerichtet war. Im bürgerlichen Realismus kommt schließlich die lethargische Enttäuschung über die misslungene Revolution von 1848 zum Ausdruck. Die Vertreter des bürgerlichen Realismus reflektierten melancholisch die rasende Dynamik der Ökonomie, die neuen Formen der Unfreiheit und die wachsende Macht der Massen (Becker 2003: 71ff). In den besagten „Buddenbrooks“ wird so ausschweifend der zähe Niedergang einer norddeutschen Kaufmannsfamilie nachgezeichnet. Die Bürger ahnten hier bereits, dass das neue Spiel namens Kapitalismus die Spieler beherrscht.

Das 20. Jahrhundert: das Geheul der Bürgerkinder

Im 20. Jahrhundert wurden die aggressivsten antibürgerlichen Tiraden? herausgebellt. So erschütterte etwa Henry Miller?, der aus einfachen Verhältnissen kam, die bürgerliche Doppelmoral u.a. mit dem Roman „Wendekreis des Steinbocks“. Im Gegensatz zur Tradition der bürgerlichen Helden pflegten zuvor auch Bertolt Brecht und der Prolet-Kult einen proletarischen Habitus mit proletarischen Helden.

Neue antibürgerliche Helden gab es in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg bei den Beatniks zu bestaunen: Jack Kerouac? („On the road“) und Allen Ginsberg? („Das Geheul und andere Gedichte“) machten einen besonders wilden und hedonistischen Habitus des Dschungels hörbar. Die koordinierte Rebellion gegen das bürgerliche Elternhaus hatte begonnen. Der Staffelstab wurde alsbald an die Hippies weitergereicht (T.C. Boyle?: „Drop City“).

Linke und rechte Spießer

Mit anderen Worten kann das Bürgerkind ein ordnungsliebender, pflichtbewusster Spießer linker oder rechter Ausrichtung werden, der sich permanent und zunehmend im 21. Jahrhundert selbst diszipliniert. Das Bürgerkind kann aber auch aus der Art schlagen und ein Revolutionär und Verleugner seines anerzogenen Habitus werden und dementsprechende Literatur produzieren. Selbst wenn der Schriftsteller selbst nicht aus dem Bürgertum kommt, so ist doch auch die Negation und die Kritik der bürgerlichen Verhaltensweisen eine Bezugnahme auf den dominanten bürgerlichen Habitus in der Literatur und außerhalb von ihr.

Ausblick

Der bürgerliche Literatur-Habitus ist kein Monolith und keine heilige Kuh. Er ist eine offene, aber permanente Verabredung im kollektiven Gedächtnis, bewusst und unbewusst anwesend in erlernten und verweigerten Verhaltensweisen. Andererseits ändert sich der individuelle Habitus genauso langsam wie der kollektive Habitus einer Klasse und deswegen ist der Begriff des bürgerlichen Habitus in der modernen Literatur treffend. Und gerade, weil der bürgerliche Habitus in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts so widersprüchlich, janusköpfig und amorph daherkommt, lohnen sich neuartige Auslegungen des unscharfen Begriffs.

Diese dynamische Entwicklung des bürgerlichen Habitus in der Literatur führt zu der Frage, was überhaupt noch als antibürgerliche Literatur angesehen werden kann, wenn fast keine Neuerscheinung? im 21. Jahrhundert mehr schockieren kann. Der bürgerliche Habitus in der Literatur ist also erstaunlich liberal geworden ... Warum eigentlich?

Autor: Marcus Fiebig

Literatur

  • Becker, Sabina (2003): Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter ; 1848 - 1900. Tübingen.
  • Bourdieu, Pierre (1966): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main.
  • Bourdieu, Pierre; Steinrücke, Margareta (1997): Der Tote packt den Lebenden. Hamburg.
  • Fest, Joachim (2007): Bürgerlichkeit als Lebensform. Späte Essays. Reinbek bei Hamburg.
  • Kondyles, Panagjotes (1991): Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim.
  • Lukács, Georg (1971): Die Seele und die Formen : Essays. Neuwied.
  • Mann, Thomas (2002): Der Tod in Venedig. Novelle. Frankfurt am Main.
  • Nassehi, Armin (2008): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. Wiesbaden.
  • Nickl, Peter (2001): Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus. Hamburg.
  • zdf; Sloterdijk, Peter; Am Safranski, Rüdiger: (02.05.2010) Vielerorts wird heute vom Aufkommen einer "neuen Bürgerlichkeit" gesprochen. Ist das Bürgertum dabei, wieder selbstbewusst aufzuerstehen? Ausstrahlung am 02.05.2010. (Philosophisches Quartett). Online verfügbar unter http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/startseite/#/beitrag/video/1035076/In-den-Ruinen-der-B%C3%BCrgerlichkeit

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