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Herz der Finsternis

von<br> Joseph Conrad

„Lieber Onkel, ich weiß, dass Sie keine Bücher lesen“, meinte Joseph Roth 1928 in „Geschenk an meinen Onkel“, fuhr dann aber unbeirrt fort: „Trotzdem gebe ich Ihnen einige. Ein Mann hat sie geschrieben, namens Joseph Conrad. Er war ein Pole von Geburt. Er wurde im tiefsten Kontinent geboren, nämlich in Wolynien … und seine Muttersprache war die polnische, die zu den kontinentalsten Sprachen der Welt gehört. Aber er ging mit 16 Jahren nach Marseille, bestieg ein Schiff, wurde ein Matrose und fuhr durch die Meere und wurde einer der größten Meister der ozeanischen Sprachen: der englischen. Und dies sind seine Bücher. Sie sind bewegt wie das Meer und ruhig wie das Meer und tief wie das Meer … Lesen Sie den Ozean!“

Vier Jahre nach Joseph Conrads Tod am 3. August 1924 war dessen Ansehen allerdings in Großbritannien im Abnehmen begriffen. Schuld daran waren unkluge Editionen der Familie und auch die Werke, die der die letzten Lebensjahre in der Grafschaft Kent lebende Autor nach 1918 geschrieben hatte. Mit ihnen war er zwar kommerziell erfolgreich wie nie zuvor gewesen, doch trübten sie die Qualität seines Gesamtwerks?. Über die frühen Romane des im ukrainischen Berditschew geborenen Joseph Conrad hatte Virginia Woolf dagegen zart, wenn auch ein wenig distanziert geschrieben: „Vollendet und still, sehr keusch und sehr schön, steigen sie auf in unserer Erinnerung, so wie an heißen Sommerabenden langsam und majestätisch erst ein Stern und dann ein zweiter am Himmel erscheint.“

Im Schatten berühmter Autoren der literarischen Hochmoderne

Im Schatten Woolfs, aber auch anderer Autoren der literarischen Hochmoderne, die Conrads Bücher verehrten – etwa F. Scott Fitzgerald? (der auf Conrads Amerika-Lesereise 1923 betrunken auf dem Rasen vor der Villa des Verlegers Doubleday, in der Conrad übernachtete, zusammen mit Ring Lardner? tanzte und postwendend hinausgeworfen wurde), William Faulkner, Ernest Hemingway, Henry Miller? oder John Dos Passos, der 1915 in der Zeitschrift? „Harvard Monthly“ einen Essay über Conrads „Lord Jim“ veröffentlichte –, steht Conrad bis heute.

Unverdientermaßen. Ebenso unverdientermaßen ist er, der mit zwölf Vollwaise wurde, im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten zum maritimen Autor von Seestücken und Abenteuergeschichten für Jungs, die in fernen und exotischen Ländern angesiedelt sind, herabgesunken. Ein in seiner Naivität zwiespältiges Lob wie das Lothar-Günther Buchheims?, Schriftsteller, Kunstsammler, U-Boot-Fahrer: „Erst als Kapitän fahren und dann ein Schriftsteller werden – was für ein Leben!“ verrät mehr über den Lobenden als über das Objekt der Bewunderung.

Thomas Mann war Conrad-Leser

Hinzu kommt, dass Conrad fast ein Vierteljahrhundert lang in England seine Interessen von einem Literaturagenten? vertreten ließ, so dass die nach 1918 in Angriff genommene Aufgabe einer Werkausgabe? kaum zu bewältigen war. Denn fast jedes der Bücher Conrads war in einem anderen Verlag erschienen. Einen reizenden Nebenaspekt stellte dabei der Umstand dar, dass sein Erstling? „Almayers Wahn“ und sein allerletztes vollendetes Buch „The Rover“ im selben Verlag erschienen.

Ähnlich die Lage im deutschsprachigen Raum. Da nahm sich früh schon der S. Fischer Verlag Joseph Conrads an, dieses Autors an der Schwelle von Spätviktorianismus und früher Moderne, und ließ in den Zwanziger Jahren den in Altaussee lebenden Jakob Wassermann? sowie Thomas Mann Nachworte für die deutschen Ausgaben schreiben. Thomas Mann las Conrads Bücher lebenslang und sehr intensiv, so euphorisiert, dass er 1951 in einem Brief? bemerkte, würde seine Bibliothek abbrennen, dann würde er sich als erstes Buch Joseph Conrads „Lord Jim“ neu zulegen. Zwischen 1962 und 1984 erschienen 19 Bände?] innerhalb der als „Gesammelte Werke in Einzelbänden“ deklarierten deutschen Joseph-Conrad-Ausgabe?, in nicht sehr zuverlässiger Übersetzung.

Neuübersetzung von Manfred Allié

Anfang der 1990er Jahre nahm dann der Zürcher Verleger Gerd Haffmans? das Projekt einer umfassenden Neuübertragung in Angriff und gewann als Übersetzer dafür unter anderem Urs Widmer und Klaus Hoffer?. Doch der Verlag ging Bankrott. Hie und da erschienen dann noch verstreut und zaghaft einige Versuche wie Daniel Göskes? Neuübertragung von „Herz der Finsternis“ oder das von Rainer G. Schmidt übersetzte „Bezauberung“. Doch im Grunde war die Lage verfahren und einigermaßen trostlos – wie bei so manchem anderen fremdsprachigen Autor auch, von dem bis heute sorgfältige deutsche Übersetzungen und zuverlässig kommentierte Werkausgaben? fehlen, Paradebeispiele: Gustave Flaubert?, Ernest Hemingway, Honoré de Balzac?. Joseph Conrads Prosa war zwar nicht in mangelhafter, aber in überwiegend unpräziser Übersetzung erhältlich (einige kürzere Stücke harren bis heute noch ihrer Eindeutschung).

Bis jetzt. Denn hätte Manfred Allié? nicht bereits den Helmut M. Braem-Preis für Übersetzung erhalten, für seine Transferleistung der Bücher Patrick Leigh Fermors?, dann wäre ihm für seine Neuübertragung der Erzählung „Jugend“ und der Novellen „Herz der Finsternis“ sowie „Das Ende vom Lied“, alle verbunden durch die gebrochene Erzählerfigur Marlow, diese Auszeichnung sicher. Nun lassen sich die vielen sprachlichen Ebenen erstmals wirklich in ihrer Pracht und ihrer Raffinesse, ihrer Doppelbödigkeit und ihrer Durchlässigkeit, im Zwischen- und Zusammenspiel von Verwirrung, Klarheit, Wahnsinn, Sprechen, Denken, Sagen, Verschweigen erfassen. In dieser sprachlichen Gestalt ist „Herz der Finsternis“, die 1902 erschienene Novelle, von bannender, ungebrochener Faszination.

Kristalline, komplexe und erschütternd zeitgenössische Sprache

Deutlich wird: Joseph Conrads Sprache ist kristallin und komplex und erschütternd zeitgenössisch. Seine Schilderungen sind aktuell und bedrängend – mit „Der Geheimagent“ schrieb er 1907 (!) den ersten Roman über Terrorismus – und in seinem Skeptizismus, seiner Zivilisationskritik, in der Schilderung der Vergeblichkeit einer von Gewalt schier überwältigten menschlichen Existenz, die dagegen ankämpft, ist er einer der großen Autoren des 20. Jahrhunderts – und des 21. Jahrhunderts. Im Vorwort?, das Conrad seinem Roman „Der Nigger von der Narzissus“ (1897) mitgab, schrieb er programmatisch: „Die Aufgabe, die ich zu erfüllen trachte, ist: durch die Macht des geschriebenen Wortes euch hören, euch fühlen und, dies vor allem, euch sehen zu machen. Das und nichts weiter, und darin liegt alles. Wenn es mir gelingt, dann findet ihr dort je nach Bedürfnis und Verdienst: Ermutigung, Trost, Furcht und Bezauberung, kurz alles, was ihr wollt, und vielleicht auch jenen flüchtigen Anblick der Wahrheit, nach dem zu fragen ihr vergessen habt.“

„Conrad zu lesen, heißt, am Rande eines Abgrunds zu erschauern, in einer stummen Finsternis“ (Arthur Symons?). Eben dies macht ihn so modern, so zeitgemäß, so zeitlos. Der Leipziger Anglist Elmar Schenkel? macht in seiner Monographie?, die keine chronologisch aufgefächerte Biographie ist, wie der Untertitel signalisiert, sondern eine Sammlung biografisch-kritischer Essays, auf diese Modernität aufmerksam. So erschien Sigmund Freuds Traumdeutung im selben Jahr wie Joseph Conrads Roman „Lord Jim“. „In beiden Fällen“, so Schenkel?, „geht es um Verdrängung, Scham, Identität, um Väter und Söhne, Sublimation und eben die Bedeutung von Träumen, aber auch des Träumens überhaupt. Jim, dessen Nachnamen wir nie erfahren, sowenig will er sich zu einer Identität zusammenfinden, ist ja der Träumer, der an der Wirklichkeit scheitert, die vor allem er selbst darstellt. Er zieht in die Welt hinaus wie Conrads Lieblingsfigur Don Quijote und wird wie dieser von Büchern und Phantasien zum Narren gemacht.“ Schenkels? anregendes und für einen Ordinarius erstaunlich gut geschriebenes Buch setzt voraus, dass man mit Conrads Werk? bereits vertraut ist, mit seinem Leben, mit Interpretationsansätzen.

Eine glänzende Lebensbeschreibung von John Stape

Der Brite John Stape? hingegen, der sich seit Jahrzehnten mit Conrads Leben und Werk? beschäftigt, setzt auf angelsächsische Nüchternheit und Faktentreue und legt eine Biographie im besten Wortsinne vor, eine glänzende, weil nicht auf stilistisch-rhetorisches Flittern ausgelegte Lebensbeschreibung. Es ist eine prächtige Einführung in den Conradschen Kosmos. Der gebürtige Pole, für den Englisch die Drittsprache war und der ein Meister der Nuancierung wurde, wird hier ungemein plastisch. Seine Lebenswelt, seine Verleger, die Londoner Literaturszene?, Freunde und Familie, erstehen dicht beschrieben und klug beurteilt. Vor haltlosen literaturtheoretischen Spekulationen – Roland Barthes? fabulierte beispielsweise: „Conrad hatte England gewählt, oder um genauer zu sein, das englische Wesen (britannité), lange bevor er an das Schreiben dachte. … Wahrscheinlich bedeutet bei Conrad die Wahl des Englischen etwas, was aller Literatur vorausgeht“ – und freudlosen Ausflügen in die Psychoanalyse scheut Stape? klug zurück, nicht aber vor scharfen Urteilen. Über Conrads Unrast, seine zahllosen Umzüge, seine unzähligen psychosomatischen Krankheiten und über seine Unfähigkeit, mit Geld vernünftig umzugehen, meint Stape? schneidend: „Die Nichtsnutzigkeit seiner Jugend haftete auch dem Familienvater mittleren Alters noch an. Er suchte Abhängigkeitsverhältnisse geradezu und war grundsätzlich unfähig zu haushalten.“ Vor allem das Spätwerk kommt bei Stape? schlecht weg: „Spannung konnte durchaus mit ‚Der Goldene Pfeil’ um den Titel ‚schlechtester Roman, der je von einem bedeutenden Schriftsteller geschrieben wurde’ wetteifern.“ So mancher Mythos wird von Stape? anhand gründlich recherchierter Fakten als solcher entlarvt. Wer einen mehr als soliden, wer einen sehr zuverlässigen Einstieg in Conrads Schaffen sucht, der hat nun einen solchen mit dieser spannend zu lesenden Biographie. Die etwas schüttere Bebilderung der Bände? von Schenkel? und Stape? ergänzt die instruktiv kommentierte Bildbiographie Renate Wiggershaus’?, die der Insel Verlag? neu aufgelegt hat.

Brigitte Kronauer, eine genaue Conrad-Leserin, lässt in ihrem Roman „Der berittene Bogenschütze“ die Hauptfigur einmal sagen: „Das also, lässt sich erkennen, ist das Conradsche Urerlebnis: Das Aufstrahlen der Welt und ihr Verdunkeln, das verheißungsvolle Licht auf ihren Dingen und die Ernüchterung … das magische Leuchten einer Sache, einer Person, eines Umstands, und das grausame Erwachen im Herkömmlichen. Dieses Erlebnis, diesen Schock bereitet er nun, unersättlich wie im Verhängnis einer Buße, seinen Lesern.“

Literaturangaben:

  • CONRAD, JOSEPH: Herz der Finsternis. Jugend. Das Ende vom Lied. Neu übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 380 S., 19,90 €, ISBN: 978-3100113351
  • SCHENKEL, ELMAR: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 368 S., 24,90 €, ISBN: 978-3100735607
  • STAPE, JOHN: Im Spiegel der See. Die Leben des Joseph Conrad. Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld. marebuchverlag, Hamburg 2007. 544 S., 39,90 €, ISBN: 978-3866480711
  • WIGGERSHAUS, RENATE: Joseph Conrad. Leben und Werk in Texten und Bildern. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007. 256 S., 10 €, ISBN: 978-3458349969

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