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Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend

von<br> Joachim Fest

Deutschland im Spätsommer 2006. Joachim Fest stirbt. Kurz darauf erscheinen seine Erinnerungen, in denen er seine Kindheit und Jugend im Dritten Reich beschreibt. Namhafte Rezensenten in sämtlichen deutschen Leitmedien sind wie selten einer Meinung. Ein Jahrhundertbuch, gleich neben Haffner und Klemperer? einzuordnen. Pflichtlektüre für den Schulunterricht. Gestandene Rezensenten im Seniorenalter wünschen sich einen Vater wie Fests Vater. Ein Hype. Auf jeden, der euphorisch über Fest schreibt, fällt ein Hauch von dessen Grandezza. Monatelang stehen die Erinnerungen des früheren FAZ-Herausgebers auf Platz 1 der Bestsellerlisten?. Ein vorbildliches Leben?

Fests Getreuer Jürgen Busche? will unter Berufung auf einen Hinweis in den Erinnerungen Fests dessen im Historikerstreit obsiegenden Widersacher Jürgen Habermas? als Nazi outen – und entblößt ungewollt (neben eigenen) die Abseiten der Persönlichkeit des großen Vorbilds. In Folge des unwürdigen Streits muss die umstrittene Passage aus Fests Buch gestrichen werden. Fests Verdienste um die deutsche Publizistik? sind unbestritten, auch und gerade wegen seiner provozierenden Thesen und seiner gewagten Freundschaften. Immer trugen sie reich zur Debatte und gelegentlich sogar zur Klärung bei. Die unrühmliche Posse vom Spätherbst 2006 um ein mit erstaunlicher Perfidie ausgeschmücktes Gerücht erleichtert nun einen freieren Blick auf die soeben als Taschenbuch wieder aufgelegten Erinnerungen.

Aufbau des Berliner Stadtteils Karlshorst

Fests Vater Johannes entstammte einer katholischen brandenburgischen Bauernfamilie und absolvierte eine Lehrerausbildung zu einer Zeit, als diese noch nicht akademisch war. 1923 heiratete er eine Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Die Schwiegereltern verkehrten in Adelskreisen. Man legte Wert auf die französische Sozialisation. Fests Großvater mütterlicherseits wirkte federführend am Aufbau des Berliner Stadtteils Karlshorst mit, in dem Johannes Fest ein Mehrfamilienhaus erwarb. Als Joachim Fest 1926 geboren wurde, amtierte der Vater als Direktor einer Volksschule in Berlin-Neukölln und war politisch in der katholischen Zentrumspartei und im militanten und durchaus nicht unumstrittenen Reichsbanner aktiv. Der helle Kopf galt als politisches Talent, dem eine große Karriere prophezeit wurde.

Als die Nazis an die Macht kamen, wurde Fests Vater zwangspensioniert. Der Großvater, der sein Vermögen längst verloren hatte, nahm im Alter von 70 Jahren eine Anstellung als Bankangestellter an, um die Familie seiner Tochter finanziell unterstützen zu können. Die Familie behielt zwar das Haus und eine schmale Pension des Vaters, von nun an war jedoch extreme Sparsamkeit angesagt. Vater Fest hielt jeder Versuchung stand, sich von den Nazis vereinnahmen zu lassen. Er bewegte sich weiter in den Kreisen verbotener politischer Gruppierungen und hielt zahlreiche Kontakte zu ehemaligen Reichsbanner-Angehörigen und traf sich weiter regelmäßig mit jüdischen Freunden.

Hass auf das nationalsozialistische Regime

Fest war gerade einmal sieben Jahre alt, als sein Vater ihm und seinem zwei Jahre älteren Bruder das Wort diktierte, das nach seinem Bekunden sein Leben lang seine Haltung prägen sollte. „Etiamsi omnes, ego non“ „Auch wenn alle [es tun, sagen etc.] ich nicht“. Das merkwürdige Initiationsritual führte die Kinder in geheime Gesprächsrunden der Eltern ein, in denen diese offen über ihren Hass auf das Nazi-Regime sprachen. Die Knaben wurden zu eiserner Geheimhaltung verpflichtet. Der Vater erklärte das Wort zum Bibelzitat aus der Ölberg-Szene im Matthäus-Evangelium. So steht es aber nicht in der Bibel. Die apodiktische Behauptung Petrus’ mündet in Petrus’ Verrat. „Ehe der Hahn kräht, wirst Du mich dreimal verleugnen.“ Dass Jesus mit seiner Vermutung recht hatte, weiß jedes Kind. Zu Skepsis und Ironie sei er erzogen worden, betont Fest mehrmals. Das Motto hat er nie hinterfragt.

Als einen der seltenen Streits zwischen seinen Eltern erinnert Fest eine in Tränen mündende Auseinandersetzung, bei der seine Mutter Elisabeth den Vater aufforderte, im Interesse der Familie von seinen Grundsätzen abzuweichen und pro forma der NSDAP beizutreten. „Natürlich liefe der Entschluss auf eine Heuchelei hinaus. Die Unwahrheit sei immer das Mittel der kleinen Leute gegen die Mächtigen gewesen …“ Fest erinnert den Protest seines Vaters. „Wir sind keine kleinen Leute. Nicht in solchen Fragen!“ Und auch hier wünscht man sich, der Autor möge ein paar Gedanken daran verschwenden, warum ihm gerade dieser Streit in Erinnerung blieb. Wirklich, weil die Mutter den Parteieintritt nahe legte? Nicht vielleicht, weil zu hören war, dass man „kleine Leute“ sei? Er denkt auch die Alternative nicht durch. In der Maske des angepassten Nazis haben viele kleine Leute andere Menschen gerettet. Fests Vater hätte ungleich größere Möglichkeiten wegen seiner vielen Verbindungen zu einflussreichen Persönlichkeiten gehabt.

Einem typischen Aufsteigermilieu entstammend

In der Darstellung seiner Familiengeschichte setzt Fest viel daran, eine herrschaftliche Herkunft zu beschreiben, obwohl er eigentlich eher einem typischen Aufsteigermilieu entstammt. Gelegentlich erwähnt er, dass sein Vater in Berlin als „aus geringen Verhältnissen“ galt. Bevor der in die gutbürgerliche Familie seiner Frau einheiratete, staffierte er sich mit Möbeln und Büchern aus, um sich eine gediegene Erscheinung zuzulegen. Ein Parvenu. Und der Sohn? Der erinnert seine Mutter als höhere Tochter und irgendwie als verhinderte große Pianistin und nennt einige Werke der Klavierliteratur, die sie zu spielen pflegte: „Für Elise“ und die Gassenhauer ihrer Jugend. Die Mimikri war allerdings perfekt. Fest gelang es später, die Deutungshoheit über den Begriff Bürgerlichkeit zu erlangen. Entpuppt der sich so als eitles Konstrukt? Die mangelnde Erdung von Fests Epigonen in traditionellen Werten wie Anstand, Bescheidenheit und sozialem Gewissen lässt das vermuten.

Auch andere Einzelheiten irritieren. Thomas Mann beispielsweise war in der Familie schon verboten, bevor die Nazis seine Werke? verbrannten. Romane, Gefühlswelten, Wankelmut – das „genre sentimental“, galten als verpönt. Der 13-jährige Sohn wurde zu Weihnachten mit Ernst Jüngers? „Auf den Marmorklippen“ beschenkt. Dieses Buch führte Fest später bis zur Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft bei sich, ergänzt u.a. vom Gedichtband „Selbstbildnis“ des Österreichers Josef Weinheber?. Dass Jünger? zu den ideologischen Wegbereitern des Nationalsozialismus zu zählen ist und Weinheber? sich in Großdeutschland unter anderem mit Elogen auf Hitler einen Namen machte, ist für Fest auch kein Thema für eine Selbstbefragung.

Die weiblichen Mitglieder der Familie werden nur am Rande erwähnt

Fest gelingt es, die Prägungen seiner Kindheit und Jugend plastisch erfahrbar zu machen. Sein Vater ist in seiner Jovialität und unerschütterlichen Überzeugung fast eine literarische Gestalt. Deshalb fällt umso mehr auf, dass Fest die weiblichen Mitglieder seiner Familie nur am Rande erwähnt. Die Jungen-Streiche lesen sich gelegentlich wie Erich Kästner. Wie viele von Kästners Protagonisten sind die Jungen in Fests Erinnerung kleine Erwachsene mit außerordentlichem Weitblick in der Welt der Großen, ausgestattet mit der indigenen Berliner Schlagfertigkeit. Fest muss ein rotzfreches Kind gewesen sein, als Jugendlicher von entwaffnender Arroganz. Man spürt, dass er seinen Vater und auch seinen älteren Bruder sehr geliebt hat und später seinen jüngeren Bruder. In diesen Dreien bewundert er allerdings ganz unverhohlen immer auch sich selbst. Doch was ist mit seiner Mutter und den Schwestern? Für sie hält er nur Allgemeinplätze bereit.

Der zweite Teil des Buchs enthält Fests Kriegserinnerungen. Das Fühlen des jungen Fest angesichts der zahlreichen Toten, mit denen er sowohl als Soldat wie als Familienmitglied konfrontiert war, ist dem alten Fest keine Reflexion wert. Er erinnert den Tod eines verhassten Unteroffiziers und seinen eigenen völligen Mangel an Mitgefühl. Ein starker Moment, und für diesen Moment ist die emotionale Starre nachvollziehbar. Aber dass er den Mann in der Rückschau noch verachtet, befremdet. Wo bleibt das christliche Empfinden, das mit der christlichen Erziehung erlernt worden sein müsste, die an so vielen Stellen wie ein Statussymbol her gezeigt wird? Eigentlich erzählt Fest Soldatenzeit und Kriegsgefangenschaft als eine Erfolgsgeschichte seiner überragenden Intelligenz und Bildung, die wie eine Eintrittskarte in die Casino-Welt der Offiziere wirkte. Das weitaus drastischere und aufrichtigere Buch über die Erfahrungen als Soldat hat ganz gewiss der 1923 geborene Georg Hensel? mit „Glück gehabt. Szenen aus einem Leben“ verfasst, das 1994 bei Insel erschien. Nicht vergessen werden sollte auch die Roman-Trilogie? eines der vergessenen Gründungsmitglieder der Gruppe 47, Michael Söder?, die er unter dem Pseudonym Achim Anderer im kleinen Karl Knödler Verlag publizierte, um seinen Söhnen Zeugnis abzulegen.

Unversöhnlich bis in den Tod

Fest schildert tief traurige Episoden aus dem engsten Familienumfeld. Aber auch hier scheint Empathie ihm unmöglich: „Erst geraume Zeit nach ihrer Ankunft kam unsere Mutter auf den Tod ihrer Eltern zu sprechen, und Winfried teilte meinen Eindruck, dass sie überaus ungern darauf einging.“ Spricht man so über Verlust? Und dann entgeht ihm völlig, dass etwas wie ein Fluch über seiner Familie zu liegen scheint: Unversöhnlichkeit. Und das bis in den Tod. Fest berichtet sowohl vom Sterben seines Großvaters als auch seiner Eltern. Keinem gelingt es, im Sterben Frieden mit Gott zu schließen. Mit wüsten Beschimpfungen verlassen sie die Welt. Selbst Fests Mutter verfällt kurz vor dem Tod in Flüche und unflätige Ausdrücke, die der Sohn ihr nach eigenem Bekunden niemals zugetraut hätte. Er rechnet diese Ausbrüche ihrer tiefen Enttäuschung über das von ihr oftmals so bezeichnete verpfuschte Leben zu. Ein verpfuschtes Leben? Wieder verschwendet Fest keinerlei Gedanken auf eine Analyse dieses erschreckenden Befundes. Immerhin war sein Vater sofort nach dem Krieg als Schulrat wieder zu Amt und Würden gekommen und vier Kinder überlebten, von denen die beiden Söhne bedeutende Karrieren in der deutschen Publizistik? machten. Für Fest ist Hitler Schuld an der Verbitterung seiner Mutter. Könnte die Unversöhnlichkeit nicht viel persönlichere Ursachen gehabt haben? Ein starrsinniger Mann, der in seinen eigenen Moralvorstellungen so gefangen sitzt, dass er nicht nur seiner Familie sondern auch seinen jüdischen Freunden mögliche Hilfe vorenthält?

Warum Fest das Motto? seines Lebens nicht hinterfragt, ist eines der großen Rätsel dieser Memoiren?. Immerhin stellt der Autor sich am Anfang die Aufgabe, erinnernd nach Jahren die „verborgenen Wasserzeichen in den Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen“. Dass er sich selektiv erinnert, ist ihm bewusst. Doch fragt er sich nirgends, warum er sich gerade an diese oder jene Episode so gut erinnert. Ganz am Ende des Buchs bescheinigt Fest seinem Vater, mit seiner Erziehung jene Haltung erzeugt zu haben, die ihn gegen jegliche ideologische Strömung unempfindlich gemacht habe. Schon hier festigt sich die Vermutung zur Gewissheit, dass Fest gerade das mit der Auswahl des Erinnerten belegen wollte. Sein Fazit liest sich nicht nur als Eigenlob, sondern auch als ungelöster Konflikt. Das wiederum erinnert geradezu fatal an die Unversöhnlichkeit, mit der seine Großeltern und Eltern ins Grab gingen. Fests gehen keine Kompromisse ein.

Albert Speer salonfähig gemacht

„Ich sprach von den vielfältigen Angriffen, denen ich als Verweigerer der linken Zeitstimmung ausgesetzt war, und wir zitierten lachend die Dummheiten, die über mich im Umlauf waren. In Wirklichkeit sei uns, ergänzte Winfried, was keiner dieser „groß gewordenen Pimpfe“ ahnte und keiner von ihnen je kennen gelernt hatte, in jungen Jahren eine Art Stolz auf die Abweichung beigebracht worden. […] Die Lehre der NS-Jahre laute für mich, dem Meinungsstrom widerstehen und nicht einmal anfällig dafür zu sein.“ Das Eigentümliche daran ist, dass sich keinerlei Entwicklung vollzog. Der Skeptizismus mündete in eine elitäre Haltung, die an die Stelle der kritischen Auseinandersetzung die grundsätzliche Unterstützung von Mindermeinungen setzte. Wo das endete, ist bekannt. Fest machte Hitler-Liebling Albert Speer wieder salonfähig und forcierte den Historikerstreit.

In der Rückschau erscheint die Euphorie der Kritik zu diesen Erinnerungen wie ein verirrter Reflex der Sehnsucht nach einer Bürgerlichkeit, die es so Courths-Mahler-mäßig? und aristokratisch, wie Fest sie entworfen hat, nie gegeben hat. Außer vielleicht in Karlshorst, gleich um die Ecke von Fests – wo Hedwig Courths-Mahler? von 1905 bis 1914 wohnte.

Der Entwicklungsroman, den junge Leser neben Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“ und Victor Klemperers? Tagebüchern in die Hand gedrückt bekommen sollten, sobald sie nach den Lebensumständen im Dritten Reich fragen, erschien schon 1959. Es ist Rudolf Lorenzens? „Alles andere als ein Held“.

Literaturangaben

  • Fest, Joachim: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 368 S., 9,95 €, ISBN: 978-3499623967

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