diesen Kommentar bitte stehen lassen

Hauptseite | Rezensionen | Rezensionen-Register | I | In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914


Bitte Krümelpfad oben nicht verändern, erst ab hier nach unten Texte ändern

In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914

von<br> Franz Kafka

In der Strafkolonie, Buchcover - (c) Verlag Klaus Wagenbach

„Wie er sprach, habe ich vergessen. Mit den ersten Worten schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten, ein seltsam fader und blasser Geschmack legte sich mir auf die Lippen. … Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder.“ – So schildert der Graphologe? und Dichter Max Pulver eine Vorlesung, die er am 10. November 1916 besuchte. Er, das war Franz Kafka, und seine Worte, das ist die Erzählung „In der Strafkolonie“. Ob man dem Bericht Pulvers uneingeschränkt Glauben schenken darf, das sei dahingestellt. Sicher ist allerdings, dass die Geschichte eine beklemmende Faszination auslöst, eine Sogwirkung hat, die selbst in Kafkas Gesamtwerk? selten so stark zu spüren ist.

Und das heute noch, denn „In der Strafkolonie“ hat nichts an Größe verloren. Es ist die Geschichte eines Reisenden, der in einer Strafkolonie Zeuge einer bizarren Hinrichtung werden soll. Ein Folterinstrument, ein „eigentümlicher Apparat“, soll dem Verurteilten mithilfe einer Konstruktion aus Nadeln kunstvolle Ornamente ins Rückenfleisch schneiden, bis zu seinem Tod. Urteil und Strafe verschränken sich in einem mechanisierten Prozess, der keine Moral mehr kennt, der jenseits steht von dem, was als gut oder böse bekannt wäre. Von Seite zu Seite schlüpft der Leser selbst in die Rolle des fremden Reisenden, an dem es liegt, über die Hinrichtungsmethode und ihre Durchführung ein Urteil abzugeben. Er ist mal hingerissen zwischen Ekel und Abscheu, erwischt sich ab und zu bei einem Grinsen über die Pantomimen des Verurteilten und seines Bewachers, er ist zutiefst fasziniert von dieser morbid-absurden Geschichte und ihren Charakteren? und er fühlt vor allem die Last desjenigen, der richten muss – der zu verstehen versuchen muss.

Der Verlag Klaus Wagenbach? hat die Geschichte nun unter dem Titel „In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914“ in der Fassung der Erstausgabe neu herausgegeben. Diese erschien nach langem Hin und Her 1919 beim Kurt Wolff Verlag?. Kafka selbst war zwar außergewöhnlich zufrieden mit dem Werk, nahm jedoch immer wieder von Neuem Änderungen vor. Zusätzlich zum Text an sich bietet Herausgeber? Klaus Wagenbach dem Leser vor allem die Hintergründe, vor denen die Erzählung? entstand. Neben einer biographischen Skizze zum Leben Kafkas vor und während der Entstehungszeit und Informationen zur Veröffentlichungsgeschichte sind in der Ausgabe viele Texte versammelt, die die zeitgeschichtlichen Hintergründe beleuchten oder aber Kafka selbst zu der Erzählung inspirierten. Das ist eigentlich sehr wünschenswert: Das Werk des Schriftstellers ist so vielschichtig, dass die daraus erwachsenen, mehr als zahlreichen Interpretationsansätze die meisten seiner Leser mittlerweile dauerhaft ermüdet haben dürften.

Doch auf eine weitere Interpretation der Geschichte wird völlig verzichtet. Stattdessen gibt es insbesondere historische Exkurse zu Strafkolonien zur Zeit Kafkas, über verschiedene Folterapparate, den „modernen“ Arbeiter und Kafkas Arbeit und seine Erfahrungen bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. In der Auswahl der Hintergrundinformationen spiegelt sich der Untertitel wider: „In der Strafkolonie“ erscheint wirklich als „Eine Geschichte aus dem Jahre 1914“, verortet im soziopolitischen Kontext der Zeit. Das ist durchaus nicht immer glücklich, denn der Textapparat? erzwingt geradezu eine unbedingt politische Lesart von Kafkas Werk. Wenn Kafka immer wieder als Sympathisant des Pazifismus, des Anarchismus, der Pariser Kommune auftaucht, als jemand, der die Leiden des Proletariats durch seine Arbeit am eigenen Leib erfahren musste, so eröffnen spätestens die Texte zum Taylorismus und zur fortschreitenden Maschinenwerdung des Arbeiters eine sozialkritische Deutungsebene, der man sich kaum entziehen kann.

Dahingegen werden ethische Aspekte so gut wie außer Acht gelassen. Insbesondere der Auszug aus Friedrich Nietzsches „Zur Genealogie der Moral“ und Alfred Webers Vortrag „Der Beamte“ stechen hervor, geben dem Leser Impulse, weiter über die Geschichte nachzudenken, ohne sich aber zu sehr aufzudrängen – man wünscht sich mehr als diese paar Seiten. Dabei hätte auf viel verzichtet werden können. Der Klaus Wagenbach Verlag setzt jedoch mehr auf Abwechslung als auf Relevanz: Allem voran wirken die von Kafka für die Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt geschriebenen Abhandlungen über die Gefahren von Fräsköpfen und Ähnlichem mit ihren Abbildungen unfreiwillig komisch. Derlei Beiwerk gibt es allzu reichlich. Bilder des Hauses, in dem Kafka die Erzählung schrieb, von Guillotinen und des Treppenhauses seines Arbeitsplatzes sollen wohl einen guten Einblick in die Zeit und das Umfeld vermitteln, in denen Kafka „In der Strafkolonie“ verfasste, sind aber ermüdend und langweilig anzuschauen. Es sind zwar gut gemeinte Visualisierungen, die aber redundant daherkommen. Denn das eindrucksvollste Bildmaterial ergibt sich immer noch aus Kafkas Sprache selbst.

Insgesamt ist diese Ausgabe? wenig für eine intensive Auseinandersetzung mit Kafkas Erzählung geeignet. Neuen Lesern dürfte sie allerdings wohl einen Eindruck davon vermitteln, wer Kafka war, was ihn bewegte und beschäftigte. Letzten Endes steht in ihrem Zentrum natürlich immer noch die Geschichte selbst, die Kurt Tucholsky schon bei ihrem Erscheinen berechtigterweise als „Meisterleistung“ bezeichnete. Und die auch heute noch eine Ahnung von dem „faden Blutgeruch“ aufsteigen lässt, den Max Pulver beim ersten Hören wahrzunehmen meinte.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

Kafka, Franz: In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. Mit Quellen, einer Chronik und Anmerkungen. Hrsg. von Klaus Wagenbach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 128 S., 8,90 €.

Weitere Einträge zum Stichwort:

Bitte Krümelpfad unten nicht verändern


Hauptseite | Rezensionen | Rezensionen-Register | I | In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914

Daten hochladen
Buecher-Wiki Verlinken
FacebookTwitThis
Pin ItMister Wong
RSS-Feed RDF-Feed ATOM-Feed

schliessen