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Kafka am Strand

von<br> Haruki Murakami

Wir werden nie erfahren, warum eine japanische Schulklasse im Jahre 1944 kollektiv exklusive der Lehrerin in Ohnmacht fällt und bald darauf unbeschadet aufwacht – mit Ausnahme von Nakata, der nach langem Koma zwar sein Bewusstsein wiedererlangt, aber sein gesamtes Wissen und die Hälfte seines Schattens verliert. Viel später soll er beides wiederfinden, wenn auch nicht in dieser Welt.

Auch der 15-jährige Literatur-affine, gedankenreisende, selbsternannte "Kafka" Tamura ist auf der Suche. Seine Mutter und seine Schwester verschwanden, als er ein Kleinkind war, und sein Vater, ein berühmter Bildhauer, verbringt viel Zeit damit, ihm Schuldgefühle einzuflößen. Kein Wunder, dass "Kafka" seinem Zuhause den Rücken kehrt. Er ist nicht allein, bei ihm ist sein alter ego? "Krähe", der immer alles besser weiß, ihn verspottet, aber antreibt, damit Kafka einmal der stärkste Junge der Welt sein wird.

Kafka mit Krähe

Kafka findet sich nach einigen Umwegen in der Komura-Gedächtnisbibliothek wieder, "seinem Platz im Winkel der Erde". Dort outet er sich schließlich als Ausreißer, wird aber liebevoll aufgenommen. Der kluge Angestellte Oshima, nicht Mann, nicht Frau, und auch die schöne, würdevolle Leiterin Saeki-San mit der traurigen Vergangenheit vertrauen ihm aus noch unerfindlichen Gründen von Anfang an.

In einer anderen Stadt macht sich Nakata auf den Weg zu ihnen, doch wissen weder er noch die Herrschaften in der Bibliothek zu diesem Zeitpunkt davon. Seit dem Vorfall in seiner Kindheit ist Nakata "dumm", lebt von Sozialhilfe, kann nicht schreiben und hat keine Meinung – außer der, dass er Aal mag. Aber er versteht die Sprache der Katzen und bringt zur Freude ihrer Besitzer entlaufene Exemplare zurück – ihre Artgenossen leisten ganze Arbeit als Informanten.

Auf der Suche nach der kleinen Katze Goma jedoch gerät er in arge Bedrängnis: Ein Mann, der sich als Johnnie Walker vorstellt, erpresst ihn – sollte er ihn nicht töten, werde er die Katze vor seinen Augen umbringen. Wie im Rausch kommt Nakata diesem Wunsch nach, sticht so lange zu, bis der Mann in seinem Blut liegt. Am nächsten Tag wacht er auf, vollkommen sauber und mit einer munteren Katze neben sich.

Weit entfernt ist es am gleichen Morgen Kafka, der blutbesudelt und ohne Erinnerung an das Geschehen der letzten Nacht aufwacht. Oshima bringt ihn in eine einsame Hütte, um seinen weiteren Aufenthalt in der Bibliothek zu organisieren. Er warnt den Jungen vor den Gefahren des Waldes, was den aber nicht davon abhält, kleinere und dann größere Ausflüge ins Unterholz zu unternehmen, er empfindet die Unberechenbarkeit der Natur als Prüfung.

Unberechenbare Natur

Als die Zeitungen die Meldung bringen, ein berühmte Bildhauer, Kafkas Vater, sei erstochen aufgefunden worden, wird die Geschichte mehr und mehr zum Krimi. Nakata glaubt, dass er den Mann erstochen hat – doch war er es wirklich? Oder doch der Sohn, der sich den Tod des Vaters gewünscht hatte? Lokale Fisch- und Blutegelregen gehen nieder, die Nakata vorausgesehen hat, dann macht er sich auf seine Reise mit (noch) unbekanntem Ziel. Erst kurzfristig spürt er nach jeder Etappe, in welche Richtung es weiter gehen soll. Der Lastwagenfahrer Hoshino begleitet ihn, er begibt sich, ohne sich über den genauen Grund klar zu werden, in den Dienst des seltsamen Alten.

Sie sind auf der Suche nach dem "Eingangstein", das weiß Nakata nun, er ist derjenige, der ihn bewegen muss, um die Tür zu einer anderen Welt zu öffnen - um einige Dinge in der realen Welt geradezurücken und in ihre ihnen zugedachte Form zu bringen. Auch er wird davon betroffen sein, ebenso wie Saeki-San und auch Kafka. Der treue Hoshino findet den Stein und ist maßgeblich an der Öffnung der Pforte beteiligt. Der Trucker mit der Baseball-Kappe hat inzwischen seine Leidenschaft für klassische Musik im Allgemeinen und Beethoven im Besonderen entdeckt, weitere unvermutete Talente sollen folgen.

Der gesamte Roman mit seinen Geheimnissen und Bildern ist im Text des Liedes "Kafka am Strand" enthalten, mit dem die damals 19-jährige Saeki-San Erfolge feierte, bevor sich ein dunkler Schatten über ihr Leben legte. Auch ein Bild in einem besonderen Zimmer der Bibliothek trägt den Namen, es "hortet Vergangenheit" und ist ebenso wie das Lied voller Sogkraft und mit Wehmut aufgeladen. Für den Jungen Kafka ist das Lied wie ein Rätsel, dessen einzelne Teile er lösen muss, um sich selbst zu verstehen. Erst, als er jedem Aspekt einzeln nachspürt, sieht er Stück für Stück klarer: wer ist seine Mutter und wer seine Schwester, warum haben sie ihn verlassen und was soll aus ihm werden? Er wird eine weite und riskante Reise machen müssen, um es zu erfahren.

Lied und Märchen

"Kafka am Strand" besitzt ebenso coming-of-age?- wie Bildungsroman-Elemente?, ist aber in erster Linie ein Märchen, auch wenn er von sich behauptet, er sei es nicht. Hier geht es nicht um nachprüfbare Fakten und Nachvollziehbarkeit, schließlich erscheinen einige lebende Geister? und Phantasiefiguren mit dämonischen Qualitäten. Realistische und vollkommen surreale Elemente halten sich die Waage, so dass man sich nicht vollends und eindeutig auf eine Seite schlagen kann. Das Geheimnisvolle mit seinem reizvollen Duft trifft auf die für Murakami so typische schnörkellose Klarheit und geschmeidige Schönheit der Erzählung.

Die Fäden der Erzählung kommen sich näher, treffen sich aber nicht, viele Knoten entwirren sich, vielen Spuren kann man bis zu einem gewissen Punkt folgen. Doch es geht nicht darum, alles zu erklären, und wie zuletzt in Murakamis "Sputnik Sweetheart" bleiben Fragen offen und Vorgänge ohne endgültige Klärung. Im Zweifelsfall ist es im Traum geschehen – im Traum ist alles möglich und entzieht sich unserem endgültigen Einfluss.

Es geht um das, was diese Menschen direkt oder indirekt verbindet, auseinanderreißt und was zurückbleibt, "die Unwiederbringlichkeit der Zeit", Wehmut. Das Schicksal, die Vorsehung oder wie auch immer man es nennen soll, spielt eine große Rolle, damit es überhaupt zu diesen Begegnungen kommen kann. Wie sich zeigt, liegen die Gründe dafür tief in der Vergangenheit sowie den Träumen und Seelen der Personen verborgen. Es geht auch um Werte, zum Beispiel darum, der eigenen Engstirnigkeit und Intoleranz auf den Grund zu gehen und auch um die Frage, was für eine Bedeutung es überhaupt hat, jemanden zu lieben (wenn doch immer die Gefahr besteht, verlassen zu werden).

Bei jedem der Beteiligten liegt erst im Nachhinein offen, dass irgendwann im Leben der Zeitpunkt kommen sollte, einer inneren Stimme zu folgen, um dahin zu gelangen, wo sie eigentlich hingehörten. So muss jeder diesen ihm vorbestimmten Weg gehen. Kafka geht ihn allein, ebenso wie Saeki-San. Nakata und Hoshino gehen ihn zunächst gemeinsam. Oshima wird, ohne es zu wissen, zum Helfer, ohne ihn hätten weder der Junge noch seine Chefin ihren Weg finden können, dazu wird der ein guter, wenn nicht der wichtigste Freund für Kafka.

Freundschaften und innere Stimmen

Freundschaft ist ebenso wie das hier dazugehörige, bisweilen blinde Vertrauen ein wichtiger Faktor, und Murakami widmet sich dem auf sehr eindringliche und trotzdem zarte Weise. Wenn Menschen miteinander umgehen, ist das hier stets geprägt von gegenseitigem Respekt, liebevollen Gesten, Interesse und Geben wie Nehmen. So hat sich der eher tumbe Hoshino durch die Reise mit dem alten Mann, dadurch, dass er die Welt mit dessen Augen gesehen hat, vollkommen verändert – doch ohne Hoshino hätte Nakata seinen Teil der Aufgabe nicht bewältigen können.

"Kafka am Strand" als Märchen zu lesen, macht den Roman für Argumente unangreifbar, die etwa die Nachvollziehbarkeit kritisieren, denn das Unerklärliche ist unverzichtbar. Der Roman käme allerdings ohne die etwas gewollt eingebrachten Elemente der griechischen Tragödie und den sozusagen vollzogenen Ödipus-Komplex? aus - die Wirkung und die Vielschichtigkeit der Geschichte würde das absolut nicht beeinträchtigen. Auch der Bezug zur viel zitierten Suche nach unserer "anderen Hälfte" oder der "sympathische Hermaphrodit" sind weitere Faktoren, die den eigentlich runden, im besten Sinne gesättigten Roman unnötig vollstopfen und überladen.

Dennoch, beim Gesamteindruck sollte dies nicht so sehr ins Gewicht fallen. Fühlt man sich doch ansonsten bei Murakami wie gewohnt gut aufgehoben – durch die Art seines Erzählens, das den Leser an die Hand nimmt, ohne ihn an die Leine zu nehmen, unverstiegen, leichtfüßig, ohne aber die Schwere des Lebens aus dem Blick zu verlieren. Es ist, als werde die Geschichte erst im Moment des Lesens für jeden persönlich erzählt und gerade so viel gesagt, wie man gerade wissen möchte, ohne alles zu offenbaren. Und am Ende wird man trotz eventueller Holprigkeiten und Irritationen zugeben, dass man sich wunderbar anspruchsvoll unterhalten, berührt und angesprochen fühlt.

Literaturangaben

  • MURAKAMI, HARUKI: Kafka am Strand. Roman. Dumont Verlag, Köln 2004. 637 Seiten, 24,90 €.

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