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Kalteis

von<br> Andrea Maria Schenkel

„Tannöd“ war im vergangenen Jahr die literarische Überraschung. Das 128-seitige Debuet? von Andrea Maria Schenkel erhielt euphorische Kritiken, verkaufte sich gut, erhielt den Deutschen Krimi Preis? als bester Kriminalroman des Jahres und den Friedrich-Glauser-Preis? als bestes Debüt?.

Seitdem, auch mit der Hilfe einer Fernsehsendung und einer „Spiegel“-Homestory, verkaufte sich „Tannöd“ noch besser und erhielt weitere Preise. Inzwischen steht der Kriminalroman seit Wochen auf den vorderen Plätzen der Bestsellerlisten? und die Edition Nautilus? freut sich über ihren größten Bestseller. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an Schenkels zweiten Roman „Kalteis“. Bereits vor dem Erstverkaufstag hat er, wie der dritte Platz in der aktuellen KrimiWelt-Bestenliste? zeigt, die Herzen der Krimikritiker erobert.

Über 90 Vergewaltigungen

Das ist erstaunlich. Denn „Kalteis“ enttäuscht als Kriminalroman auf ganzer Linie. Dabei hat Schenkel vieles aus ihrem Debüt? übernommen. Wie in „Tannöd“ ließ Schenkel sich von einem wahren Fall inspirieren. In ihrem Debüt? war es der sechsfache Mord auf dem Einödhof Hinterkaifeck 1922.

In ihrem zweiten Roman ist es das Schicksal des 1939 wegen über neunzig Vergewaltigungen und fünf Morden angeklagten und nach einem Schnellverfahren hingerichteten Johann Eichhorn. Wieder gibt sie bei einigen Dialogen? nur einen Sprecher wieder. Wieder erzählen verschiedene, oft namenlose Charaktere die Geschichte. Wieder erzählt sie nicht chronologisch. Wieder ist das Buch mit 160 Seiten? kurz.

Aber es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen Schenkels „Tannöd“ und „Kalteis“. „Tannöd“ ist strukturell eine Detektivgeschichte. Ein Ermittler kommt in einen Ort und will einen Mord aufklären. Er unterhält sich mit verschiedenen Personen und am Ende des Buches wird der Mörder präsentiert. Diese Untersuchung strukturierte „Tannöd“. Es gab eine nacherzählbare Geschichte. Es gab eine dramatische Frage.

Überführt und geköpft

Der Sinn einer solchen Frage ist, dass der Autor weiß, was zur Geschichte gehört und was nicht. Ebenso weiß der Leser, welche Informationen wichtig sind und welche nicht. Diese Frage kann offensichtlich sein, wie „Wer ist der Mörder?“, oder thematisch. Dann ist es ein Sittengemälde?. Aber auch hier sollte schon beim ersten Lesen und ohne eine erklärende Instanz deutlich werden, was der Autor sagen will. In „Kalteis“ verzichtet Schenkel auf die dramatische Frage. Sie entwirft ein weitmaschiges Netz verschiedener Episoden, die zusammenhängen können oder auch nicht.

Wenn die Episoden zusammenhängen, erzählt Schenkel von dem Serienmörder Josef Kalteis, der 1931 seinen ersten Mord begeht. Bis zu seiner Verhaftung 1939 ermordet er mehrere Frauen. In dem anschließenden Verhör wird er überführt und schließlich geköpft. Mit dieser Hinrichtung beginnt „Kalteis“. Dann springt Schenkel, wie wir auf den letzten Seiten? erfahren, zurück in das Jahr 1931 und zu einem vollkommen neuen Erzählstrang, der mit Kalteis lange nichts zu tun hat. Die junge Kathie will in München ein neues Leben beginnen. Schenkel erzählt von ihren ersten Tagen in München. Die Geschichte von Kathie zieht sich, wie das Verhör von Kalteis, durch das gesamte Buch.

Wenige Seiten später erzählt Schenkel von Gerda. Genau genommen erzählt eine Ich-Erzählerin von dem Kalteis-Opfer Gerda. Sie kehrt von einer Feier zurück. Ein Mann versucht Gerda zu vergewaltigen. Er wird von Anwohnern verfolgt und anschließend verhaftet. Es ist Josef Kalteis. Gerda ist die erste der meistens nur in einer Episode auftauchenden Frauen. Es sind zuerst Walburga Kalteis und dann Kuni (1938), Herta (1937), Erna (1934) und Marlis (1934). Sie sind – so kann vermutet werden – die Opfer von Kalteis. In diesen Episoden wechselt Schenkel? munter die Perspektiven und fügt amtliche Dokumente und Gesprächsprotokolle ein. Aus ihnen entsteht eine spannungsfreie Chronologie? der letzten Stunden der von Kalteis zufällig ausgewählten Opfer.

"Da ist immer was los"

Nachdem beim Lesen schon das Erahnen der Struktur des Romans und des Zusammenhangs einzelner Abschnitte zu viel Aufmerksamkeit beansprucht, lenkt auch die Sprache immer wieder von der Lektüre ab. Die amtlichen Dokumente sind im spröden Tonfall einer Verwaltung geschrieben. Aber auch die wechselnden Ich-Erzähler reden nie in ihrer normalen Umgangssprache, sondern immer, als würden sie gerade vor Gericht eine Aussage machen.

Das changiert dann zwischen „Der 18. Februar, das war der Faschingssamstag. Dienstbotenball beim Sedlmayer in der Wirtschaft. Da ist immer was los“ und einem Stummeldeutsch à la „Wann genau ich den Josef kennengelernt habe, kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Wir kennen uns schon ewig. Seit unserer Kindheit“.

Diese Teile sind nicht besonders elegant formuliert, aber sie könnten damit entschuldigt werden, dass diese Menschen eben so gesprochen haben. Bei den in der dritten Person von der Erzählerin geschriebenen Episoden entfällt diese Entschuldigung. Sie beginnt ihre Sätze nicht mit dem Subjekt?. Sie lässt Satzteile weg. Sie schreibt zu oft in der indirekten Rede?. Sie wechselt abrupt innerhalb eines Absatzes die Erzählzeit. Sparsam angewandt kann jedes dieser Stilmittel die Wirkung des Textes steigern. Doch bei Schenkel sind dies – höflich formuliert - immer wieder irritierende und den Lesefluss hemmende Marotten, die aus jeder Zeile wie Unkraut sprießen.

Schlampig geschrieben

Sie schreibt: „Im Halbschlaf noch, kurz vor dem Erwachen, hört sie die Stimmen. Zuerst weit weg, wie vom anderen Ende einer großen Halle. Immer lauter werden sie. Die Frauenstimme der der Mutter nicht unähnlich, rau, heiser.“ Wenige Zeilen später verzichtet sie grundlos auf die Prädikate?. Sie schreibt „Das Zimmer klein, die Vorhänge zugezogen“ anstatt „Das Zimmer ist klein. Die Vorhänge sind zugezogen“.

Sie formuliert umständliche Halbsätze wie „Weiß wieder, wo sie ist und wie sie hierherkam, am gestrigen Tag“. Sie formuliert immer wieder Sätze, wie „Dagestanden ist er auf einmal vor ihr, der Kerl“ oder „Der Kerl, er lässt nicht ab von ihr“. Beide Male fragt man sich, warum sie nicht einfach schreiben kann „Plötzlich stand er vor ihr“ oder „Der Mann begrapscht sie weiter“. Manchmal schreibt Schenkel ganze Kapitel in der nicht sehr lesefreundlichen indirekten Rede?. Oft wechselt sie abrupt und, weil die Anführungsstriche fehlen, falsch von der indirekten Rede? (Konjunktiv I) in eine Form der direkten Rede? (Indikativ) und manchmal wieder zurück.

So liest man „Wissen wollte sie, ob das Gerücht stimme und ob die Erna wirklich nicht nach Hause gekommen sei. Danach erst ist sie zur Polizei gegangen“ oder wenige Seiten später „Ob er denn auch schon draußen gewesen sei? Achterbahn ist sie gefahren“ oder „Im Zug erzählt sie ihm, sie habe gar nicht lange auf ihn warten müssen. Nur fünf Minuten, mehr waren es nicht gewesen. Ist sie doch heute erst um elf aufgestanden“. Das ist bestenfalls die Sprache eines Entwurfs oder eines Treatments? für ein Drehbuch. In jedem Fall ist ein so schlampig geschriebener Text nicht für eine größere Öffentlichkeit bestimmt.

Literaturangaben

  • Andrea Maria Schenkel: Kalteis. Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2007. 160 S., 12,90 €, ISBN: 978-3894015497

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