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Kollegengespräche

von<br> A. J. Weigoni

Mit Schriftstellern ein Interview? zu führen, ist schwierig. A.J. Weigoni ist überzeugt davon, dass ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist, Menschen die ein Gespräch führen wollen, sind verdächtig. Weigonis launige Unterhaltungen mit Journalisten sollten nicht als Kommunikation verstanden werden, sondern als Verweigerungskunst und virtuose Rollenprosa?. Deshalb betrachtet er das Projekt "Kollegengespräche" eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben lässt.

Weigoni hielt dem jeweiligen Interview-Partner nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte in das Gespräch vor allem seine eigenen Erfahrungen mit ein. Ausgangspunkt war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit seinen Gesprächspartnern stimmte A.J. Weigoni weitestgehend darin überein, dass man Literatur nicht nur den "Fachleuten" überlassen sollte. Der Begriff ‘Immunität’ hat unsere Weltanschauung, das Selbst– und Weltbild des modernen Menschen, nachhaltig geprägt. Sprache ist demzufolge ein Virus, das sich – von Mund zu Mund, von Buch zu Buch, von Website zu Website – schneller vermehrt, als die Diskurspolizei? erlaubt. Das scheint ganz besonders für die Sprache der Infektion selbst zu gelten, von der Semantik der Ansteckung. Dies geschieht umso leichter, wenn die fraglichen Wörter ihrerseits bereits mit Bildern infiziert sind, die ursprünglich nicht der wissenschaftlichen Sphäre entstammen, sondern der poetischen. Kann es eine Sprache zwischen Buchdeckeln? geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?

Für diese Form von Gesprächen nahmen sich die Schriftsteller Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben? – stellten sie sich Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessierte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, des Interviews, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als "Literatur–Wissenschaftler".

Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?

Obzwar unter den Zeltschrägen eines gemeinsamen Umschlages, bilden die Schriftsteller dieses Projekts keine einheitliche Gruppe. Es gibt keinen gemeinsamen arspoeticagleichen Ansatzpunkt als den, Literatur anders einzuordnen, um schließlich eine Art literaturkritischer Mutation hervorzuzaubern. Eben durch die Unterschiedlichkeit der Texte, durch die Unvereinbarkeit der gezielten Darlegungen und dank dieser Inkompatibilität wird an den Autoren die gegenwärtigen Lage der kulturellen Gesellschaft deutlich.

Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der in die Lüfte aufsteigt, obzwar er gebrochene Füße hat, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin–de–siècle–belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden, der existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik? heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muss die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, dass Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarisches Feldes.

In den Gesprächen mit den Autor Innen?: Karlheinz Barwasser / Holger Benkel / Patricia Brooks / Barbara Ester / Klas Ewert Everwyn / GRAF–X / Wolfgang Kammer / Bruno Kartheuser / Axel Kutsch / Jens Neumann / Ulrich Peters / André Ronca / Ioona Rauschan / Dieter Scherr / Robert Stauffer / Angelika Voigt / Dieter Walter / Eva Weissweiler wird ein Blick in die Arbeitszimmer der Schriftsteller der 1990er-Jahre? geworfen. Man erfährt viel über ihre Arbeit an Lyrik, Prosa, Drama und über Arbeitstechniken im Studio, auf der Bühne oder im Internet. Und das aus erster Hand.

Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von Leben, Film und Literatur, von Querverweisen zwischen Literatur und Kunst und von Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und schließlich sogar der Zukunft machen die „Kollegengespräche“ zu einer komplexen Lektüre. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit des Schreibens aber wiegen die Beschwernis der labyrinthischen Gedankenwege, die lesend nachvollzogen werden müssen, wieder auf. Die Literatur eröffnet eine Dimension, die für die Gesellschaft völlig unverzichtbar ist. Literatur ist nicht nur Dekor des Lebens, das neue Gesellschaftsmodell benötigt neue Literaturformen. Über Verfremdungen drückt Literatur die Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen aus. In Zeiten tiefgreifender Veränderungen verschwimmen deshalb auch die Grenzen zwischen den so genannten Literaturproduzenten und dem so genannten Publikum.

Die Literatur ist weniger als jeder anderer Bereich bereit, die Fixierung auf das, was ist, also auf die Realitäten, die man vorfindet, zu akzeptieren. Genau deswegen entwickelt sie die Dynamik, die eine Gesellschaft dringend braucht, wenn sie nicht auf der Stelle treten will. Das ist Aufgabe der Literatur, nicht der Kulturpolitik.

Autor: Matthias Hagedorn

Literaturangaben

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