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Mein Dämon ist ein Stubenhocker

von<br> Maximilian Dorner

Um es gleich vorwegzunehmen: Meine Widergängerin ist eine hässliche Frau unbestimmbaren Alters, mit dem hässlichen Vornamen Multiple und dem noch viel hässlicheren Nachnamen Sklerose. Sie nimmt in dem Maße zu, wie ich abnehme, weil sie von mir lebt, mich aussaugt und auffrisst. Sie kann tanzen, - wahlweise auch auf einem Bein -, sie kann rennen, springen, turnen, sie kann ihren Augen trauen und kraftvoll zupacken. Ich hasse sie; aber wir sind siamesische Zwillinge: Für den Rest unseres Lebens untrennbar mit einander verbunden und das nun schon seit bald zwanzig Jahren.

"Mein Dämon ist ein Stubenhocker" ist weiß Gott keine einfache Lektüre, obwohl sie den unschlagbaren Vorteil gegenüber anderen MS-Büchern hat, dass hier einer schreibt, der es kann. Drei Monate umfasst der Bericht aus der Eiszeit einer fortschreitenden Erkrankung, drei Monate, die nicht ausreichen, um auch nur zu ahnen, dass endgültig Schluss ist mit lustig. Es ist Maximilian Dorners großes Verdienst, mitten aus dieser unabgeschlossenen Zeit heraus zu berichten, mit all ihren Schwierigkeiten, den Übertreibungen oder auch Unterforderungen.

Er spürt die Irritationen der andern, wenn sie ihn mit Stock die Straße entlanghumpeln sehen. Er spürt ihre Fragen, die auch die seinen sind: Wie kann das angehen? Wie passt das zusammen? Er kriegt es selbst nicht zusammen. "Für einen wie ihn wird mit großem Abstand gebremst." Besser erst mal Abstand halten. Das heißt für ihn, voll Fassungslosigkeit zu erkennen, wie unerschöpflich die Bewegungsabläufe des menschlichen Körpers in seinem ganz normalen Alltag sind und wie vielfältig er eingeschränkt sein kann, wenn er krank ist. Seine Antwort darauf: Er lässt sich die Welt beschneiden. Statt Trekking im Himalaja ein Urlaub im Behindertenwohnheim. Er gewöhnt sich erst mühsam daran, behindert zu sein. Deshalb behindert er sich schnell mal selbst, bleibt hinter den eigenen Ansprüchen zurück, gibt sich mit kleineren Brötchen zufrieden.

Dorners Tagebuch hebt sich wohltuend von der sonst üblichen MS-Bekennerliteratur der Marke "Trotz allem glücklich leben mit MS" ab. Es ist kein Buch, das Mut macht, und will es auch gar nicht sein. Sein Tagebuch erzählt von dem Starrkrampf, den die (Geh-)Behinderung auslöst. Nicht weniger, auch nicht mehr.

Maximilian Dorner setzt sich mit der Frage "Was ist Krankheit? Was ist Gesundheit? Was ist Behinderung?" auseinander. Er kommt dabei zu manchen Erkenntnissen, die nicht besonders atemberaubend sind, etwa wenn er jedem seiner Freunde eine Behinderung anhängt. Das mag wohl zutreffend sein. Aber man fragt sich: Wenn jeder Mensch eine Behinderung hat, was ist dann für den einzelnen gewonnen? Nein, man muss schon realistisch bleiben und Abstufungen vornehmen. Denn nicht jeden hindert seine Behinderung daran, im Dunklen einen Flur entlang zugehen.

Das Tagebuch Maximilian Dorners lässt sich auch lesen als eine Suche nach der verlorenen Authentizität. Sei es nun, wenn es darum geht wohlmeinende Freunde mit ihren noch viel wohler gemeinten Ratschlägen in die Schranken zu verweisen, oder sich zu den Therapievorschlägen der Profis zu verhalten. Immer ist er auf der Suche nach dem richtigen Maß zwischen Anpassung, Aufgabe und Selbstbehauptung. Da mag es trotzig klingen, wenn er darauf beharrt, chaotisch und sprunghaft zu sein. Sein Dämon wird sich nicht darum kümmern. Genauso wenig, wie es ihn schert, ob er zu ihm passt oder nicht. Er ist einfach da und fordert. Aber man kann diesem Dämon ein Schnippchen schlagen. Nicht indem man ihn ignoriert, sondern indem man ihn integriert. Und vor allem, indem man nichts zu verheimlichen versucht.

" 'Geht schon' ist der wohl in den letzten beiden Jahren von mir am häufigsten gebrauchte Satz. – 'Ich kann nicht mehr' habe ich zwar auch oft gesagt, aber nur zu mir selbst." Das lähmt; mindestens so sehr wie die MS. "Immer diese Lügen, die Scheu, die eigene Gebrechlichkeit zuzugeben." Es ist dieses Lügen vor sich selbst, ein sich selbst Belügen und Nicht-wahr-haben-Wollen der eigenen Hinfälligkeit, das Dorner zu Beginn seines Tagebuches auf andere projiziert, um dann mühsam auch die Hinfälligkeiten der anderen aufzusuchen. Und noch zum Schluss schreibt er, niemand solle durch ihn an seine eigene Gebrechlichkeit erinnert werden. Geradeso als ob es an ihm läge, wer durch wen an was erinnert wird.

Mag sein, dass Behinderte Nichtbehinderte darauf verweisen, dass es auch um deren Gesundheit schnell geschehen sein kann. Das muss uns nicht kümmern. Wir haben genug damit zu tun, die Reste unserer Identität neu zusammenzusetzen und uns als JournalistIn? und SchriftstellerIn, Hausfrau und Mutter, Liebhaberin und Geliebte, Sportskanone und Stubenhocker mit Behinderung neu zu erfinden.

Autorin: Sandra Lucyga

Literaturangaben

  • Dorner, Maximilian: Mein Dämon ist ein Stubenhocker. rororo, Reinbek 2009. 160 S., 7,95 €, ISBN: 978-3499625022

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