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Mein Russland. Literarische Streifzüge durch ein weites Land

von<br> Klaus Bednarz (Hrsg.)

„Russland – ein weites Land und ein geheimnisvolles. Ein Land, das mit dem Verstand nicht zu begreifen ist … Der Versuch einer Annäherung, so scheint es, kann am ehesten glücken durch das persönliche Erfahren, im doppelten Sinne des Wortes. Oder durch das Eintauchen in die Schätze der russischen Literatur“, schreibt der bekannte Journalist? Klaus Bednarz, promovierter Slawist und Osteuropa-Historiker, der lange Zeit auch ARD-Korrespondent in Warschau und Moskau war. Seine Auswahl von Erzählungen der russischen Literatur? des 19. und 20. Jahrhunderts erhebt nicht den Anspruch von Repräsentativität.

Im Gegenteil: Bednarz hat Texte aufgenommen, die in seinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben, Autoren, die er selbst kennen und schätzen gelernt hat. Gerade diese subjektiven Beweggründe geben der Anthologie? ihre besondere, eigenwillige Note, unterscheiden sie von anderen Anthologien, die vorwiegend den überlieferten Kanon? im Auge haben. Selbst der Kenner russischer Literatur wird hier manch Unbekanntes und Entdeckenswertes finden, und der mit der russischen Literatur nicht so vertraute Leser kann nach Herzenslust darin blättern, sich an dem einen Text erfreuen, bei dem anderen ergriffen und nachdenklich werden.

Puschkin und Lermontow: Liebe und Seelenspaltung

Zwanzig Erzählungen von 16 Autoren vereinigt dieser Band. In der Erzählung „Der Postmeister“ von Puschkin verläuft die Entführung Dunjas, der schönen Tochter des Samson Wyrin, durch den Husaren Minskij gegen die herkömmliche Regel für die Tochter glücklich und für den Vater unglücklich. Des Dichters „innere Mathematik“, mit der er über die Teile im Hinblick auf das Ganze verfügt, ist hier ebenso zu bewundern wie die Kontraste zwischen musikalisch-elegischen und konkret-malerischen Episoden.

Dagegen folgt in dem Roman „Ein Held unserer Zeit“ (1840) von Michail Lermontow? die Liebesgeschichte? des begabten, hochsensiblen Offiziers Grigori Petschorin mit der tscherkessischen Fürstentochter Bela der natürlichen Chronologie. Petschorin ist zum „sittlichen Krüppel“ geworden. Skepsis, Zynismus und ein überwaches Bewusstsein beherrschen ihn. Die Seelenspaltung treibt ihn zum Spiel mit seinen Mitmenschen. Die heftig aufflammende Liebe zu Bela erlischt schnell und endet nur zu bald im Ennui, in überdrüssiger Langeweile. Sie hat sich über Petschorins Seele gelegt, sie schlägt ins Dämonische, ins Böse um. Die Erzählung „Bela“ in unserem Band ist das zweite der fünf Kapitel des berühmten Romans, der der russischen Prosa neue Wege zum psychologischen Realismus? eröffnete und der sich aus verschiedenen gängigen Typen des erzählerischen Genres zusammensetzt.

Nikolai Gogol: Kaleidoskop der Gesellschaft

In E.T.A. Hoffmanns? Erzählwerk fanden viele russische Autoren ihre Muster für phantastische Erzählungen und Künstlernovellen. So auch Nikolai Gogol? in seinen „Petersburger Erzählungen“ (1839-42), in denen er E.T.A. Hoffmann leibhaftig auftreten lässt. Freilich nicht den Dichter, sondern einen biederen deutschen Schuhmachermeister gleichen Namens. In dem diesem Zyklus? entnommenen Text „Der Newski Prospekt“ promeniert und paradiert die ganze Petersburger Gesellschaft – vom Soldaten und Kommis' über die englischen Johns und französischen Jeans mit ihren Hofmeistern bis zu den Beamten und Hofräten, vor allem die Damen aller Altersgruppen, zu den verschiedenen Tages- und Nachtzeiten auf der Petersburger Prachtstraße. Hier wird einander fixiert, gegrüßt, nachgeschaut, hier werden Blicke getauscht und Bekanntschaften gemacht – ein wogendes Hin und Her, ein buntes Kaleidoskop der Gesellschaft.

In den Petersburger Erzählungen ist das Dämonisch-Banale durch das althergebrachte Verfahren – die Schönen als lasterhafte und unbedarfte Geschöpfe – realisiert worden. Die Verdinglichung der Menschen und die Belebung der Dinge werden hier erlebbar. Die Figuren entstammen der Petersburger Wirklichkeit, und doch sind sie nicht „realistisch“, sondern in einer bestimmten – grotesken – Verzerrung wiedergegeben.

Maria Wolkonskaja: Russische Frauen als positives Ideal

Die Fürstin Maria Wolkonskaja? folgte ihrem Mann, der sich 1825 am gescheiterten Dekabristenaufstand gegen den Zaren beteiligt hatte, in die Verbannung nach Sibirien, wo sie mehr als 30 Jahre ihres Lebens verbrachte. Aus ihren französisch verfassten Memoiren?, die in russischer Version erst 1904 herauskamen, hat Bednarz einen charakteristischen Auszug ausgesucht. Hier stehen nicht mehr die problematischen überflüssigen Menschen aus der romantischen Tradition im Mittelpunkt, sondern seelisch starke russische Frauen, die, von nüchternem Edelmut und menschlicher Wärme durchdrungen, mehr und mehr zum positiven Ideal einer Literatur werden, deren männliche Helden aus Willensschwäche oder wirrer Spekulation ihren Ort in der Gesellschaft verfehlen.

Nikolai Leskow: Erstaunliche Folgerungen

Zu den besten Novellen Nikolai Leskows?, eines Meisters des anekdotischen Erzählens, zählt „Der Toupetkünstler“ (1883), die Geschichte von der tragischen Liebe zweier leibeigener Künstler, des Friseurs Arkadij Iljin und der Schauspielerin Ljubow Onissimowna. Nach gefährlichen Versuchungen durch ihren Herrn, den Grafen Kamenskij, der ein Leibeigenen-Theater unterhält, nach Flucht und Bestrafung, wird Arkadij, als er sich zum Offizier hochgedient hat und nach langer Trennung zurückkehrt, um Ljubov Onissimowna zu heiraten, ermordet. Er muss gerade in dem Augenblick, da er zum „Herrn“ geworden war, einem Mörder zum Opfer fallen. Leskows Novellen führen immer wieder zu den erstaunlichsten Folgerungen.

Das Problem des Todes hat Lew N. Graf Tolstoi? zeitlebens beschäftigt, so auch in der späten Erzählung „Herr und Knecht“ (1895), in der die Konfrontation des neureichen Kaufmanns Wasilij Andrej Brechunow (brechun = Lügner) und seines Knechtes Nikita mit der Unausweichlichkeit des Todes das zentrale Thema der spannend erzählten Fabel bildet. Aus doppelter Perspektive wird hier erzählt, einmal aus der Sicht des Herrn, der in der Stunde des Todes sich zu christlicher Nächstenliebe bekehrt und mit der Wärme seines eigenen Leibes Nikita rettet, und aus der Sicht des Knechtes, der seiner letzten Stunde gefasst entgegensieht.

Anton Tschechow: Der Zeit voraus

„Die Dame mit dem Hündchen“ (1899) findet in einer leidenschaftlichen Liebe zu einem, wie sie, verheirateten Mann jenes Glück, das ihr der Alltag nicht zu geben vermag, muss freilich für diese Liebe das große Opfer einer qualvollen seelischen Belastung auf sich nehmen. Diese hoffnungslose Ehebruchsgeschichte, die dennoch ein Triumph der Liebe über ein „armseliges unbeschwingtes Leben“ ist, gehört zu den großen tragischen Erzählungen Anton Tschechows? der 1890er Jahre, die allein schon vom Umfang her als Povesti (Kurzromane) einzustufen sind. Sie stoßen in psychologische und philosophische Dimensionen vor, die jenseits der damaligen Zeitauffassung lagen.

Isaak Babel: Bunte, blutige Welt

Isaak Babel hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg gedient, auf Seiten der Bolschewisten am russischen Bürgerkrieg und als Kriegskorrespondent bei der 1. Kavallerie-Armee Budjonnyjs am Polenfeldzug teilgenommen. Seine Tagebuch-Aufzeichnungen fasste er in kurzen Erzählungen zusammen, die seinen literarischen Ruhm begründen sollten. Babel hat den Vorgang, wie die nackten Fakten der Erinnerung durch „Phantasieren“ in Fleisch und Blut gekleidet wurden und sich die Phantasie am Ende als Wirklichkeit erzeigte, rückblickend selbst geschildert.

Ihren spezifischen Charakter erhielten die Erzählungen, von denen Bednarz drei auswählte, allein schon von der bunten, blutigen Welt, in der sich das Kriegsgeschehen abspielte. In Galizien, der ukrainisch-polnisch-jüdischen Zwischenregion, brachen die roten Kavalleristen, die vom Geist der Weltrevolution ebenso durchdrungen waren wie vom urtümlichen kosakischen Heldenmut, mit brutalem Tatendrang ein. Die Kurzgeschichten, die allesamt durch das Ich-Prisma des Erzählers? aufgenommen sind, machen keinen Hehl aus dem gewalttätigen Vorgehen und der antisemitischen Einstellung der Kosaken. Die distanzierte, ironische Einstellung des Erzählers verleiht den Texten eine innere Spannung, die von Babels virtuosem Stil, der die präzise Beschreibung ebenso kennt wie das sprachliche Ornament und eine überraschende Bilderfülle, wesentlich mitgetragen wird.

Ossip Mandelstam: Vielschichtiges Denken

Die hohe semantische Verdichtung und Assoziativität gestatten der Poesie wie Erzählprosa? Ossip Mandelstams? – so auch in dem Text „Jüdisches Chaos“ aus „Die ägyptische Briefmarke“ -ein mehrschichtiges Denken, wie es so in der russischen Prosa nicht wieder erreicht wurde. Der Dichter-Baumeister benutzt die Worte tatsächlich wie Bausteine, die er „nach seinem Bilde „ zusammensetzt und mit denen er auf verschiedenen semantischen Ebenen, in einem reizvollen Nebeneinander ungebräuchlicher Archaismen? und abgegriffenen, trivialen? Alltagswörtern, spielt.

Wladimir Woinowitsch: Satire des real existierenden Sozialismus

Der Satiriker Wladimir Woinowitsch?, der 1980 zur Ausreise aus der Sowjetunion gezwungen wurde, später aber seine russische Staatsbürgerschaft zurückerhielt, stellt unter dem Titel „Im Freundeskreis“ „eine nicht sehr glaubwürdige Erzählung von einer historischen Abendgesellschaft“ – so der Untertitel – vor. Das sprachliche Vergnügen soll hier nicht über den ernsten Inhalt hinwegtäuschen. Denn die von der Satire geleistete Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit soll ja zu deren Veränderung beitragen.

Lew Kopelew und Warlam Schalamow: Lagerliteratur

Lew Kopelew?, 1981 ausgebürgert und bis zu seinem Tod 1997 in Köln lebend, teilt eine Episode aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager „hundert Kilometer hinter der Front“ und von einem sowjetischen Hauptmann mit, der seit dem russischen Bürgerkrieg die Funktion eines Exekutors wahrgenommen hatte. Was geht in solch einem Menschen vor? Warlam Schalamow, einer der wichtigsten Vertreter der russischen „Lagerliteratur“, verbrachte 18 Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern.

In dem Text „Typhusquarantäne“ berichtet er vom Leben im sibirischen Gulag. Der vielseitig begabte Wassili Schukschin, einer der wichtigsten Vertreter der „Dorfprosa“, versucht nicht, das Wesen des traditionellen Dorfes und seiner Bewohner erinnernd heraufzubeschwören, sondern schildert ausgeprägte Charaktere, die nicht am Untergang des alten Dorfes, sondern an ihren eigenen psychologischen und sozialen Unzulänglichkeiten kranken. Seine pointiert? geschriebenen Dialoge? kann man in der abgedruckten Kurzgeschichte „Herbst“ bewundern. „Im Spiegel des Vergessens“ schreibt der Tschuktschene Juri Rytcheu über die traditionelle Kultur seines Volkes und die Bedrohungen, denen sie, obwohl sie erst nach der Oktoberrevolution zur Schriftsprachlichkeit gelangte, im Zeitalter der Sowjetisierung ausgesetzt war.

Ljudmila Ulitzkaja: Zauber der Krim

Angesichts von Ljudmila Ulitzkajas? Erfolgsroman „ Medea und ihre Kinder“ (1996) hat Christa Wolf, die ja auch selbst eine Medea-Version geliefert hat, von einem Netz gesprochen, welches die russische Autorin ausgelegt hätten, um einen Zauber einzufangen: den Zauber eines Ortes, in den die Schicksale von Menschen verwoben seien, den Zauber einer Landschaft und den Zauber, der die Person der alten Griechin Medeja Mendes auf der Krim, dem alten Taurien, umgibt, zu der ihre „Kinder“ immer wieder zurückkehren. Diesen Zauber strahlt auch Ljudmila Ulitzkajas Geschichte „Russische Frauen“ aus. Es bietet Freude und Leid – und bewältigtes Leben.

Alexander Ikonnikow? gehört zu den jüngsten literarischen Neuentdeckungen. In anekdotischer Form, lakonisch und zugleich mit groteskem Humor stellt er in den drei ausgesuchten Texten Menschen vor, die sich im postsowjetischen Russland der Tücken des Alltags zu erwehren haben.

Wenn in dieser Anthologie? von den verschiedenen Zeiten, Personen und Begebnissen erzählt wird, so deutet sie in der Auswahl der Texte auch schicksalhaft Verbindendes, die Fügung, behutsam an. Hier wird keine vordergründige Spannung aufgebaut, hier wird nicht etwas zu einem Schluss hin entwickelt. Stattdessen strahlt das Buch eine wohltuende Ruhe aus und vermittelt dabei viel Neues, Lebenswertes.

Literaturangaben:

  • BEDNARZ, KLAUS (Hrsg.): Mein Russland. Literarische Streifzüge durch ein weites Land. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, ISBN: 978-3499241130, 367 S., 9,90 Euro.

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