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Nachtzug nach Lissabon

von<br> Pascal Mercier

Warum schreibt eine Frau, die sich offenbar von einer Brücke stürzen will, ihrem zufällig vorbei kommenden Retter eine Telefonnummer auf die Stirn? Warum verlässt dieser – Lateinlehrer und Altphilologe an einem Berner Gymnasium – den Unterrichtsraum, um ihn nie wieder zu betreten? Warum reist er, Raimund Gregorius, genannt Mundus, stets pflichtbewusst und korrekt, nach Portugal, um nach einem Autor zu fahnden, der schon lange tot ist und dessen Worte ihn nicht mehr loslassen? Was bewegt den Lehrer so tief, dass er seinen Beruf kurz vor der Pensionierung einfach hinwirft?

Wer auf eindeutige Antworten hofft und auf die immer währende Logik menschlichen Handelns zählt, sollte "Nachtzug nach Lissabon" besser gleich zur Seite legen. Man muss sich schon einlassen auf Pascal Merciers? Roman, der von Mundus' Reise erzählt und stilistisch durch die satte Poesie der Worte besticht. Während der geborene Antiheld geduldig das Leben eines Helden recherchiert?, entfaltet sich ein melodischer Rhythmus? der Sprache, der sich allmählich steigert. Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen setzt Gregorius das Bild zusammen, das ihm aus den autobiographischen Schriften von Amadeu Prado so vertraut erscheint und doch so viele Überraschungen in sich birgt. Die Aufzeichnungen des Portugiesen - bekannter Arzt und heimlicher Schriftsteller zugleich - faszinieren Mundus immer mehr. „Ich möchte wissen, wie es war, er zu sein.“ Er spürt die Personen auf, die Amadeu gekannt haben, heute allesamt zwischen 80 und 90 Jahren alt, und rekonstruiert Amadeus Leben, das ihn sogartig zurück in die Vergangenheit zieht. „Kann man das? Wissen, wie es ist, ein anderer zu sein? Ohne der andere zu sein?“

Da gibt es Jorge, Amadeus alten Freund aus der Schulzeit, mit dem er dem Widerstand unter dem Salazar Regime angehörte. Und da gibt es seine platonische Freundin, Maria, die lebenslang Amadeus Vertraute bleiben sollte, und die er nicht nur nicht küsste. Zu seiner Familie hatte Amadeu stets eine diffizile Beziehung: die Schmerzen des Vaters, der Ehrgeiz der Mutter ... Seine ältere Schwester Adriana vergöttert ihn immer noch. Das ehemalige blaue Haus, in dem Amadeus Wohnung und Praxis untergebracht waren, ähnelt einem Mausoleum. Adriana hat seit dreißig Jahren den vollen Aschenbecher als Reliquie bewahrt. Und Amadeu hat Spuren an ihrem Körper hinterlassen. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Narbe am Hals, die sie unter einem schwarzen Samttuch versteckt?

Als die Brille des kurzsichtigen Mundus zerbricht, sucht er eine Augenärztin auf, die ihm neue Gläser verschreibt. „Mit den neuen Gläsern war die Welt größer, und der Raum besaß zum erstenmal wirklich drei Dimensionen.“ Die Sehschwäche des Gymnasiallehrers ist eine Metapher für seinen Blick auf die Welt, der sich mit der neuen, leichten und modischen Brille erweitert. So verliert er in Lissabon langsam seine notorische Angst vor dem Erblinden.

Was für den eiligen Leser wie „Geschwafel“ daherkommen mag, entpuppt sich für andere als existenzphilosophische Prosa. Gregorius wie Amadeu sind Agnostiker, aufgerieben an der Frage nach der Sinnlosigkeit des Seins und des Bewusstseins. „Die kosmische Bedeutungslosigkeit unseres gesamten Tuns“ durchwirkt den Roman wie ein roter Faden.

Durch Amadeus Worte verleitet, versteht nun auch auch Mundus den Glauben an Gott als Valium gegen die Angst vor dem Tod. „Eine Religion, in deren Zentrum eine Hinrichtungsszene steht, finde ich abstoßend … Stell dir vor, es wäre ein Galgen gewesen, ein Guillotine oder eine Garotte. Stell dir vor, wie unsere religiöse Symbolik dann aussähe.“ Es gehe auch darum, das Unvorstellbare zu Ende zu denken. „Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? … Es wäre die Hölle, dieses Paradies der Unsterblichkeit.“

Amadeu starb an einem Aneurysma, als er um die sechzig war. Mundus beginnt auf ähnliche Weise unter Schwindel zu leiden. Er scheint den festen Boden unter den Füßen zu verlieren. In allem Tun und Erleben, so empfindet er es, seien wir „Treibsand vor uns selbst.“ Dabei ist der Altphilologe ein Mensch, der sich noch nie gelangweilt hat. Auch den Stillstand der Zeit wertet er nicht als Zeitverschwendung. „Die Zeit stand still, oder nein, sie stand nicht still, aber sie zog ihn nicht mit sich fort, trug ihn keiner Zukunft entgegen, floß an ihm unbeteiligt und berührungslos vorbei.“

Was ist verrinnende Zeit? Kann man Zeit überhaupt verpassen? Bei den Sätzen Merciers muss man verweilen, um ihre Schönheit bemerken zu können. Der Autor, der mit richtigem Namen Peter Bieri? heißt und bis zum Herbst 2007 in Berlin einen Lehrstuhl für analytische Sprachphilosophie? inne hat, zeichnet nur seine belletristischen? Werke mit Pascal Mercier?. Er verfolgt auch in seinen theoretischen Schriften einen konstruktivistischen? Ansatz: „Das Leben ist nicht das, was wir leben; es ist das, was wir uns vorstellen zu leben.“ Wie sein Held Amadeu doziert er unter anderem über Kitsch. Was ist Sprachkitsch und wann ist Philosophie kitschig? Was ist der Mensch ohne Geheimnisse? Einer ist immer Viele, die einander jedoch ähnlicher sind als alle anderen. Etwas beginnt erst zu existieren, wenn es durch Sprache benannt oder ausgedrückt werden kann. „Wir sind nicht die Bildhauer unserer Gesichtszüge und nicht die Regisseure unseres Ernstes, unseres Lachens und Weinens.“ Mit dieser Auffassung steht Bieri ganz in der Tradition Paul Watzlawicks, Umberto Ecos und des Systemtheoretikers Niklas Luhmann.

Als Hörbuch ist Merciers Roman sicher nicht geeignet, man muss ihn lesen und die Sätze? vor sich sehen. „Wenn Amadeu ein Buch liest, dann hat es nachher keine Buchstaben mehr. Er verschlingt nicht nur den Sinn, sondern auch die Druckerschwärze“. Ähnlich erging es der Rezensentin bei der Lektüre von "Nachtzug nach Lissabon". Es ist alles andere als Zeitverschwendung, sich für den mitunter prätentiösen Roman Zeit zu nehmen, um in die Tiefen der Prosa einzutauchen. Dennoch hat "Nachtzug nach Lissabon" Längen, wenn er beispielhaft von der „Brandung des Zufalls, von verwehtem Treibsand und der Asche der Vergeblichkeit“ erzählt. Ein Buch der offenen Fragen und der tausend Antworten.

Literaturangaben

  • Mercier, Pascal: Nachtzug nach Lissabon, btb Verlag, München 2006, 496 S., ISBN: 978-3442734368, 9,50 Euro

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