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Neue Unübersichtlichkeit

In der globalisierten Welt versucht der Markt, allen Tätigkeitsbereichen seine Gesetze zu diktieren: Auch Verwaltung und Kultur gehorchen den Regeln von Gewinn und Verlust, Angebot und Nachfrage. Das Verlagswesen ist davon nicht ausgenommen. Verleger und Lektoren sind keine bloßen Opfer von profitgierigen Investoren mehr, sondern Akteure, die ihr Metier an die Bedingungen der Globalisierung anpassen und neue Buchformen? erfinden, die der neuen Norm gehorchen: Es lässt sich alles verkaufen und kaufen, und zwar so schnell wie möglich. Die Verwechselbarkeit der Verlage führt zu einer Unschärfe der Programme. Es ist ein eminent verlegerisches Problem, weil sich die acht bis zehn ernstzunehmenden Publikumsverlage? um dieselben Bücher streiten. Wir haben es mit einer neuen Form von Biedermeier-Mentalität zu tun, mit einer Sehnsucht nach konfliktfreier Wohlfühl-Kultur.

Büchermachen geschieht in einem Konflikt zweier Wertesysteme. Der Neoliberalismus erreicht das Verlagswesen über die Werte der Kommunikationsbranche?. Träger dieser Werte sind die großen Medienkonzerne?, die in Presse und Digitalfernsehen enorm präsent sind, also in den Vermittlungsmedien, durch die bisher, vor allem durch die Presse, die potentiellen Leser von der Existenz der Bücher erfuhren. Doch diese Konzerne sind finanziell auch sehr stark im Vertrieb engagiert, also in den Netzwerken, die die physische Präsenz der Bücher in den Buchhandlungen oder Buchmärkten sicherstellen. Für einen Medienkonzern? dient das Buch dazu, die vielen anderen Aktivitäten des Unternehmens mit einem Inhalt zu versehen: Presse, Filmstudio, Fernseh- oder Radiosendungen, sogar den Vorzugsverkauf in den hauseigenen Buchhandlungen. Alle Medienkonzerne? werden strukturiert durch die Norm des Gegenwartkultes, des unmittelbaren Umsetzens von Themen und Produkten, des schnellstmöglichen Auszahlens der Investition. Ihre Zeitschriften? konzentrieren sich daher auf die Bestseller, die sich sehr schnell verkaufen sollen und der großen Homogenität der Vertriebssysteme angepasst sind, die wiederum eher dazu da sind, die Verkaufszahlen der Bestseller in die Höhe zu treiben, als dazu, die breite und anhaltende Präsenz von anspruchsvollen Büchern zu gewährleisten. Das Buch ist schon immer eine Handelsware gewesen, die hergestellt, verkauft, getauscht wird.

Bereits 1950 hatte der Schriftsteller Julien Gracq? in seinem Pamphlet? über "Die Literatur für den Magen" vor der allgemeinen Geschmacks- und Stilnivellierung nach unten gewarnt, vor zunehmender Anpassung mancher Schriftsteller an das breite Publikum, dass Autornamen nur mehr als Markenzeichen begreife und Bücher, falls überhaupt, so konsumiere, als handelte es sich dabei um Ess- oder Schleckwaren. Doch wenn Diderot und Kant von Anfang an darauf bestanden haben, dass es keine Ware wie die anderen ist, dann deshalb, weil das Buch kein nützliches Gut ist wie ein Möbelstück oder ein Bett, sondern ein Erfahrungsgut: Je nach Charakter, Erwartung und Erfahrung wird jeder ein Buch anders lesen. Nur ein Antiquitätenhändler verkauft heute noch ein Bett aus den 1860er Jahren, aber jede gute Buchhandlung verkauft noch Tolstois "Krieg und Frieden", weil die heutigen Leser sich mit einem neuen Erwartungs- und Erfahrungshorizont hineinvertiefen. Historisch ist das Buch, ob nun Roman oder geisteswissenschaftliche Abhandlung?, ein Übertragungsmedium. Es wird heute geschrieben, aber auf der Grundlage einer Reflexion oder Perspektivierung der Vergangenheit, die in die Zukunft weist. Das Buch ist also im Futur ebenso wie im Perfekt oder im Konditional geschrieben.

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