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Nice Big American Baby

von<br> Judy Budnitz

Albert Camus beschreibt in „Der Mythos des Sisyphos“ ein in Kafkas Romanen und Erzählungen allgegenwärtiges Paradoxon?: Je ungewöhnlicher das, was dem Helden zustößt, desto selbstverständlicher begegnet er diesem. Gregor Samsa erwacht eines morgens als Insekt und seine einzige Sorge ist die zu erwartende Verspätung im Büro.

Ähnlich verhält es sich in den meisten der zwölf Erzählungen von Judy Budnitz?. Und die Autorin hält auch sonst nicht damit hinter dem Berg, dass sie dem Prager Versicherungsangestellten einiges zu verdanken hat. Da hält sich zum Beispiel eine Familie eine Schar Vertreter in einem Bretterverschlag in der Hoffnung, sie zur Feldbestellung gebrauchen zu können: „Wenn sie doch nur ihre Kiefer zum Graben benutzen würden.“ Und die Surfer, die man vom Haus aus beobachten kann, surfen nicht im Meer, sondern in den Wellendünungen eines Sandsturmes. Als einer durch einen halsbrecherischen Sturz besonders auffällt, heißt es: „Das ist bestimmt ein richtig Süßer!“

Verstümmelungen, Mutationen, Metamorphosen

Budnitz? hat spürbar Spaß an ihren skurrilen Ideen. Diese sind das Außergewöhnliche an ihren Erzählungen. Parabeln, geprägt von Märchen- und Traummotivik. Von finsteren Szenerien, wie etwa einer vage skizzierten, orwellschen? Diktatur; einem öden, verwüsteten Amerika, das die Klimakatastrophe schon hinter sich hat (mit einem nicht zu übersehenden parodistischen Wink in Richtung Hollywood) oder der endzeitlichen Welt eines Lazarett-Chirurgen in der Zeit der Sezessionskriege.

Aber auch das vermeintlich Normale, Alltägliche wird entlarvt und die unter der kultivierten Oberfläche schlummernde Gewalt ans Tageslicht gezerrt. Judy Budnitz? bedient sich hier allerdings etwas zu unverhohlen beim Klischee der pervertierten, mittelständischen, amerikanischen Vorstadt, weiß es dann aber originell umzusetzen. Denn plötzlich beginnen desperate Hausfrauen einander zu zerfleischen und sich den Schmuck aus den Ohrläppchen zu reißen.

Das ist ein weiteres Kennzeichen dieser Short Stories. Immer wieder verwischen die Demarkationslinien des Körpers. Immer wieder machen sich seine Teile selbstständig. Verstümmelungen, Mutationen, Metamorphosen allerorten: Nicht von ungefähr fühlt man sich an die zwischen schwarzer Groteske und purem Horror oszillierenden Bildwelten der Comics von Daniel Clowes? erinnert.

„Ich klage an!“

Ein großes Manko ist aber, dass Budnitz? ihre fraglos unterhaltsamen Einfälle zu Dienern einer vermeintlich hintergründigen Intention macht, sie plump allegorisiert, für grelle Verfremdungseffekte instrumentalisiert. Ein nicht seltenes Problem aktueller Literatur zeigt sich hier. Neben sprudelnder Phantasie und meisterhaftem Handwerk? stehen inhaltliche Belanglosigkeit und Naivität. Zu moralin-bedeutungsträchtig – den Gestus? des „Ich klage an“ an den Tag legend - kommen viele dieser Erzählungen daher, ihre politisch wie gesellschaftlich platten, weil hinlänglich bekannten Aussagen vor sich her tragend.

So etwa in der Eingangserzählung „Woher wir kommen“. Mit lakonischer Genauigkeit erzählt Budnitz? von der schwangeren „kleinen Mama“, die mit eisernem Willen alles daran setzt, über die mexikanisch-amerikanische Grenze zu gelangen. „Ein orangefarbener Streifen, so breit wie eine Straße, der die Wüste von Horizont zu Horizont zerteilt. Die Grenze ist heiß; die Leute laufen unter Schmerzensschreien und mit rauchenden Schuhen darüber. Auf der anderen Seite stehen paarweise die Grenzposten aufgereiht, jedes Paar hält ein gespanntes Band aus einem schwarzen gummiartigen Gewebe zwischen sich. Sobald jemand auf ihrer Seite der Grenze angelangt ist, schnappen die beiden Posten ihn sich und befördern ihn mit ihrer Schleuder wieder zurück auf die andere Seite. [...] Manche fliegen durch die Luft, andere rutschen auf dem Gesicht über die Grenze zurück.“

Die „kleine Mama“ scheitert Mal um Mal. Und das Kind wächst und wächst. Über Jahre. „Glaubst Du nicht, das Baby würde langsam gern mal rauskommen?“, wird sie dann gefragt. Das ist erst einmal großartig, doch dann weiß Budnitz? nicht, wo Schluss ist: Das Kind kommt schließlich in den USA zur Welt, wo es ihr weggenommen und sie des Landes verwiesen wird. Schließlich das schon kitschige Schlussbild: Tränen auf dem Bettlaken des Kindes ...

Die plumpe – und politisch naive – „Message“ tut der Geschichte nicht gut. Überhaupt ist das Beunruhigende dieser Erzählungen weniger die vielleicht etwas zu bedeutungsträchtig-moraline Intention, sondern das allmähliche, aber immer einer zwingenden Logik folgende Entgleiten der Realität.

Die letzten Wörter gehen über den Rand hinaus

Doch nicht alle Erzählungen kommen so platt daher. Differenzierter wirkt es, wenn in „Leine ziehen“ plötzlich die Mutter beim Arztbesuch – offenbar durch die Toilettenschüssel – verschwindet oder in „Besuch“ die Eltern, die die Tochter besuchen wollten, sich auf dem Highway immer mehr verfahren und der einzige Kommunikationskanal, das Telefon, immer weniger Information preisgibt. Das ist das Prinzip aller dieser Geschichten, sie enthalten nur einen Realitätsausschnitt, einen Blickwinkel, der nach und nach zu flimmern beginnt, immer weniger preisgibt, dem immer weniger zu vertrauen ist.

In „Der glückliche Schnitt“ wird das auf den Punkt gebracht. Über die Tagebuchaufzeichnungen eines Lazarettarztes wird dessen zunehmendes Abdriften in groteske Visionen von Plantagen abgetrennter Gliedmaßen erzählt. Über die Aufzeichnungen heißt es: „Die Handschrift, irritierend sauber, liegt in exakten Zeilen auf dem unlinierten Papier, ohne Unterbrechungen oder Kleckser.[...] Erst gegen Ende kann man eine Veränderung der Schrift beobachten, sie wird weicher, als zöge jemand an einem losen Faden und all die verhäkelten Wörter begännen sich aufzuribbeln. Die letzten Wörter gehen über den Rand hinaus.“

Das ist in nuce eine Selbstbeschreibung des budnitzschen Verfahrens, dargestellt in einem wirklich bemerkenswerten Stück Literatur. Der große Wehrmutstropfen dieser Sammlung ist allerdings ihre Inhomogenität, was vor allem für die Qualität der Erzählungen gilt. Etwas weniger wäre hier wieder einmal etwas mehr gewesen. Trotzdem: ein wohltuend erfinderisches, ein gutes Buch.

Literaturangaben

  • Budnitz, Judy: Nice Big American Baby. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006. 352 S., 19,95 €, ISBN: 978-3455400106

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