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Schilf

von<br> Juli Zeh

Juli Zeh, gelernte Juristin und gelernte Schriftstellerin, ist sicherlich gerade eine der sozialpolitisch aktivsten innerhalb der jungen, nachrückenden Autorengeneration, die auch international wahrgenommen wird. Einst unterstützte sie an der Seite von Günter Grass Gerhard Schröders Wahlkampf, disputierte in der „ZEIT“ über die Wirtschaft als moralische Größe in der Parteienlandschaft und nahm die Buchmesse Leipzig? anlässlich der Veröffentlichung ihrer Essaysammlung „Alles auf dem Rasen“ angriffslustig und wortgewandt eher als politische denn als literarische Bühne wahr.

Jetzt hat sich die Streitbare in ihrer neusten Veröffentlichung wieder der Prosa zugewandt. Und vielleicht brauchte es die Ausflüge in die Politik und den Kontakt mit dem Nicht-Künstlerischen in der Welt ja, um wieder an Bodenhaftung zu gewinnen. Um auf Beobachtung und Menschenkenntnis gebaute Personenkonstellationen in einem philosophisch-physikalischen Universum in fast metaphysischer Komposition aufeinander treffen zu lassen. Alles in diesem Buch ist ein „Für und Wider“, wo die Protagonisten eigentlich Zusammenspiel und Harmonie leben – oder zumindest denken, dass sie es tun. Vor allem Sebastian, der als Universitätsprofessor für Physik in Freiburg mit Frau und Kind sein gutes Auskommen gefunden hat und jede Woche seinen besten Freund Oskar, der inzwischen ebenfalls als Physiker in Genf Karriere macht, zum Fachdisput beim Essen trifft. Sebastian ist Anhänger der Viele-Welten-Theorie, die besagt, dass alles, was möglich ist, geschieht. Oskar glaubt das nicht. Oskar glaubt vor allem, dass die Viele-Welten-Theorie eine Metapher für Sebastians eigenes Leben ist: möglichst viele Leben auf einmal parallel leben zu wollen und sich nicht entscheiden zu müssen. Oskar hat einen Grund für diese verzweifelte Missbilligung, denn er hegt nicht nur freundschaftliche Gefühle für Sebastian, wie bereits auf Seite 24 klar wird. Was Oskar nicht weiß, ist, dass es Sebastian gar nicht um die physikalische Theorie geht, sondern darum, irgendwann einmal damit die Nicht-Existenz von Zeit zu beweisen.

Ein Paralleluniversum oder der Anfang eines Wahns

Das wiederum weiß aber der Titel gebende Protagonist Kommissar Schilf sofort, der erst auf Seite 152 zum ersten Mal auftritt. Allen dreien ist gemeinsam, dass sie an die Existenz der einen Wirklichkeit nicht glauben, und jeder fristet auf seine eigene, schrullige Art mit dieser Erkenntnis sein Dasein.

Dann geschieht ein Mord. Muss geschehen, denn Sebastian kann seinen entführten Sohn nur dann wiederhaben, wenn er es schafft, seinen vermeintlichen Nebenbuhler umzubringen. Dumm nur, dass kurz nach der Tat und nachdem Sebastian sich wegen der Entführung der Polizei anvertraut hat, sein Sohn fröhlich aus dem Ferienlager anruft. Ist das nun ein Paralleluniversum? Oder der Anfang eines Wahns? Noch bevor Schilf seine Ermittlungen richtig aufnimmt und in einem teilweise arg klischeehaften Nebenplot Karriere und Privatleben seiner Kollegin Skura neu ordnet, ahnt der Leser schon, was es mit dem Mordauftrag auf sich hat und wessen Wirklichkeitswahrnehmung da auseinander geraten ist. Überhaupt ahnt und weiß der Leser ein bisschen viel – jedenfalls immer mehr als die Protagonisten, deren gedanklichen und verbalen Philosophien er dennoch folgen muss, um sich dann wieder an einer intelligenten Für-und-wider-Debatte zu erfreuen. Das ist auf Dauer alles ein bisschen viel Gerangel: Kunst gegen Natur, Tod gegen Leben, jenes Paralleluniversum gegen dieses, Heterosexualität gegen Homosexualität, die Zwänge der akademischen Wissenschaft gegen die Freiheiten der industriell geförderten Forschung, Familie gegen Singledasein, Stagnation gegen Aktionismus, Glauben gegen Handlung.

Alles, was möglich ist, geschieht – eben auch in diesem Roman. Nur zwei Dinge hätten nun wirklich nicht sein müssen: Die wenig verhohlenen Anleihen bei Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und das Paralleluniversum einer zweiten Leitmotivik neben der Physik. So sind über die Bedeutung der Vögel in „Schilf“ allein schon ganze Diplomarbeiten zu erwarten.

Literaturangaben

ZEH, JULI: Schilf. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2007, 380 S., 19,90 €, ISBN: 978-3895614316

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