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Schöne Verhältnisse

von<br> Edward St Aubyn

Schöne Verhältnisse, Buchcover - (c) Dumont Buchverlag

Ein Tag im Leben der Familie Melrose und deren Freunden. David ertränkt Ameisen mit dem Gartenschlauch, seine Frau Eleonore schluckt ein paar Tabletten mit einer halben Flasche Cognac und Sprössling Patrick setzt sein fünfjähriges Leben beim Klettern auf einem ungesicherten Brunnen aufs Spiel. Die britische Familie verbringt den Sommer in dem Anwesen in der Provence, das Eleonores Familie gehörte. Nicolas, ein alter Schulkamerad Davids, ist mit seiner neunzehnjährigen Geliebten Bridget auf dem Weg zu seinem Freund. Für den Abend ist ein Dinner geplant, zu dem auch Victor, ebenfalls ein ehemaliger Eton-Schüler, mit seiner amerikanischen Freundin Anne geladen ist. Man ist geistreich, man ist zynisch, man zelebriert seinen Überdruss allem und jedem gegenüber. Gehässig wird über jeden Bekannten gesprochen, Menschlichkeit und Moral werden als Schwäche abgetan.

Nicht umsonst spielt St Aubyns Roman in Lacoste in Südfrankreich. Hier steht das Schloss des Marquis de Sade?. Patrick, den man nicht sofort als den Protagonisten der Erzählung erkennt, wird von seinem Vater drangsaliert und von seiner verängstigten und dauernd unter Alkohol stehenden Mutter vernachlässigt. Es ist schockierend zu lesen, wie der Junge behandelt wird und sein eigenes Leben beim Spielen auf einem Brunnen oder Felsklippen riskiert. Die Erwachsenen wirken trotz oder gerade wegen ihrer geistreichen, vor Zynismus triefenden Gespräche einfach nur abstoßend. Einzig die Amerikanerin Anne, die sich nicht von dem tyrannischen David einschüchtern lässt, die neunzehnjährige naive Bridget und das Hausmädchen Yvette zeigen menschliche Züge.

Als David und Eleonore sich kennenlernten, hatte sich David gerade von seiner Familie abgewandt und war gegen den Wunsch seines Vaters Arzt geworden. Dieser hatte ihn daraufhin enterbt. Eleonore, eine verschüchterte, sehr stille junge Frau aus einem wohlhabenden Elternhaus, fühlte sich zu David hingezogen, da dieser so ganz anders als alle anderen ihrer Bekannten scheinbar nicht nur an Geld interessiert war. Eleonore heiratete David, obgleich dieser Gefallen daran fand, sie wie einen Hund vom Boden fressen zu lassen. In der Ehe demütigt er sie weiterhin; selbst vor Freunden.

Nicolas ist ein großer Bewunderer Davids und versucht in jeder Situation, dessen boshaftes Benehmen zu imitieren und ihm durch andauernde Bestätigung und Nachgeplapper zu gefallen. Er ist ein unverbesserlicher Snob. Seine Geliebte Bridget ist ihm mittlerweile peinlich. Dies beruht jedoch auf Gegenseitigkeit. Bridget hat eine große Vorliebe für Joints, Masturbation und knappe Kleidung. Zuerst ist sie von der Gesellschaft, die sie in dem Haus der Melroses kennenlernt, abgestoßen, besonders von David, jedoch wird am Ende des Abends deutlich, dass dieser sie in seinen Bann geschlagen hat.

Der „jüdische Emporkömmling“ Victor hat es im Kreis seiner alten Bekannten nicht leicht. Er stammt aus keiner altenglischen Adelssippe, bemüht sich jedoch nach Kräften, in diesen Kreisen akzeptiert zu werden. Er arbeitet an einem philosophischen Werk? über die Identität, mit dem er jedoch nicht so recht weiterkommt. In seiner Beziehung zu Anne, einer amerikanischen Journalistin, kriselt es, da sie seine gesellschaftlichen Ambitionen nicht gutheißt. Bei jeder Begegnung mit einem von Victors versnobten „Freunden“ verstrickt sie sich in Diskussionen und Streitigkeiten.

Trotz des bedrückenden Inhalts ist das Buch voller Humor und in einer wunderbaren Sprache geschrieben. Es ist schier unmöglich, beim erstmaligen Lesen jede der so zahlreich und kunstvoll arrangierten Metaphern zu erkennen. Erst nach der Lektüre wird einem so richtig bewusst, in was für einen scheußlichen Abgrund der Roman entführt. Aubyn schafft es grandios, dem Leser einen tiefen psychologischen Einblick in jede seiner Figuren zu gewähren. Der häufige Perspektivwechsel macht den Roman außerordentlich abwechslungsreich und gibt Gelegenheit, sich zwischenzeitlich von den diabolischen Gedanken eines David Melrose zu erholen. So versucht man im einen Moment, mit Yvette dem Hausherren David nicht über den Weg zu laufen, dann ärgert man sich mit Nicolas über die Unbedarftheit Bridgets, um im nächsten Augenblick mit Anne einen niedergeschlagenen Patrick trösten zu wollen.

Auf die Frage, ob dieser Roman autobiographisch sei, hat Edward St Aubyn mit einem klaren „Ja“ geantwortet. Der 1960 geborene, in England und Südfrankreich aufgewachsene Autor wurde in seiner Kindheit von seinem Vater misshandelt und sexuell missbraucht. Wie der kleine Patrick Melrose entstammt auch St Aubyn dem britischen Hochadel und erfuhr dementsprechend eine sehr gute Ausbildung, unter anderem in Oxford. Schon während seiner Schulzeit wurde er drogenabhängig. Schließlich begann er die Trilogie? „Some Hope“ zu schreiben, dessen erster Teil „Schöne Verhältnisse“ ist, und konnte sein Leben wieder in den Griff bekommen. 2006 war er für den Man Booker Price? nominiert. Heute ist er Vater zweier Kinder und lebt in Notting Hill. Auch in den Folgebänden seiner Trilogie? hat er seine schreckliche Kindheit verarbeitet. Sein Vater drohte ihn umzubringen, sollte er die Bücher veröffentlichen. In „Schlechte Neuigkeiten“, dem zweiten Teil, reist der mittlerweile erwachsene Patrick nach New York, um die Asche seines Vaters abzuholen. Die Geschichte ist von der Heroin-Abhängigkeit und den Suizidgedanken des Protagonisten geprägt. Der dritte Band spielt auf einer dekadenten Oberschichtenparty, bei der Aubyn noch einmal sämtliche Abgründe der High Society ans Licht bringt.

„Schöne Verhältnisse“ ist ein fesselnder Roman, der nicht so schnell aus dem Gedächtnis verschwindet. Jedem, der in einem Buch nicht nur nach seichter Unterhaltung sucht, sondern sich anspruchsvoller, mit tiefschwarzem britischen Humor gespickter und zum Nachdenken anregender Literatur widmen mag, sei dieser Roman empfohlen - kältestens.

Autorin: Michelle Jelting

Literaturangaben

  • St Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse. Übersetzt von Ingo Herzke. Dumont Buchverlag, Köln 2007, ISBN 9783832180126

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