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unterwegs verloren

von<br> Ruth Klüger

"Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist, ähnlich wie bei Vergewaltigungen, die am einfachsten durch Hinrichtung oder Selbstmord des Opfers gesühnt werden, vormals auch im Abendland und heute noch in vielen Ländern der Welt. Bekennt man sich zu diesem Sachverhalt, kann die Abneigung überwunden werden. Sonst treibt sie ungestört giftige Blüten."

Ruth Klüger? ist eine Überlebende. Wir wissen es aus ihrem ersten, unvermutet zu einer Art Bestseller gewordenen Buch „weiter leben“, das kurz nach seinem Erscheinen wie ein (reinigendes?) Gewitter durch eine Gesellschaft fuhr, die sich eingerichtet hatte mit dem, was vor über sechzig Jahren geschah: Es war geschehen, man gedachte seiner an den dafür eingerichteten Tagen, die meisten Täter waren tot — und die Opfer, die Millionen, die blieben ja tot. Doch wenn man als halbes Kind durch die Todeslager geschleift wurde, mit wachen Augen „überlebt“ hatte, wenn man dann in einem langsamen Prozess der Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft — zudem in einem Land weit entfernt von dem der Täter — weiter zu leben lernt, dann vernarben zwar die Wunden soweit, dass man sich irgendwann, nach Jahrzehnten, die Tätowierung am Arm entfernen lassen kann, aber die anderen, nicht sichtbaren Verheerungen im Kopf, in der Seele, die bleiben.

Niemand hat das so hart, unnachgiebig, kritisch beschrieben wie eben Ruth Klüger, die in Amerika eine angesehene Germanistin? wurde, an Universitäten lehrte, forschte und junge Menschen unterrichtete und die doch in „unterwegs verloren“, dem zweiten Band ihrer Autobiografie, vor allem von Verlusten erzählt. „Unsere Erinnerungen sind Eigentum und Mangel zugleich, der Zusammenbruch sozialer Zusammenhänge und, damit verbunden, die stetige Erwartung ähnlicher Zusammenbrüche in der Zukunft. Wir erwarten nicht, dass irgendetwas so bleibt, wie’s jetzt ist.“

Sie hat früh geheiratet, zwei Kinder geboren, sich von ihrem Mann, Akademiker wie sie, scheiden lassen, sie hat die Entfernung von ihren Söhnen schmerzlich erfahren und am Ende akzeptiert, sie hat sich in der akademischen Welt durchgebissen, ausgerechnet mit ihrer (liebenden) Versenkung in die Sprache derer, die sie aus den Lagern nur als mörderisches Gebell in den Ohren hatte und dank eines enorm gut ausgebildeten und zornigen Gespürs für die vielen verschiedenen Formen der Ablehnung, denen sie, die überlebende Jüdin, ausgesetzt war. Es hat sie die große wissenschaftliche Karriere gekostet und einsam gemacht. Sie hat auch das akzeptiert. Nun erzählt sie davon. Von den subtilen wie den offenen Zurücksetzungen und Abweisungen — vor allem aber von dem Widerstand, zu dem sie hartnäckig entschlossen blieb bis in ihr hohes Alter.

Was diese Memoiren? auszeichnet, ist ein niemanden (am wenigsten sich selbst) schonendes Bestehen auf Gerechtigkeit und jenem Nicht-Vergessen-Wollen, das ihr die Mitwelt oft verweigerte. Nachgeben mochte sie nicht. „Je älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit … Die Zeit fließt dahin, ohne dass etwas geschieht, du stehst vor der Mikrowelle und zählst die Sekunden, die davonticken, während du auf den aufgewärmten Tee wartest. Oder du steigst aus der Badewanne und hältst dich vorsorglich fest, bevor du das zweite Bein nachziehst und bist froh, dass der Mensch nur zwei Beine hat zum Ausderwannesteigen und kein drittes heben muss. Eigentlich, überlegt man, ist es gut, dass das Baden, Duschen, Zähneputzen in absehbarer Zeit vorbei sein wird, denn aufregend ist es nicht, immer dasselbe, außer, dass es anstrengender wird. Leider ist diese Überlegung zu unromantisch, um sie als Todessehnsucht zu bezeichnen.“ Sie hat sich nicht umgebracht (nur an jedem neuen Ort gleich nach einem hohen Haus gesucht, von dem man sich eventuell stürzen könnte). Sie ist am Leben geblieben und hat sich keiner Zumutung an ihre Existenz gebeugt, vielmehr gekämpft: um ihr Dasein als Jüdin und ihr Dasein als Frau. Beides will sie respektiert wissen.

Sie macht es denen, die mit ihr umgehen, nicht leicht (das kommt ihr gar nicht in den Sinn); sie will als die genommen werden, die sie ist, eine von der Geschichte und der Erinnerung an diese Beschädigte, die mit grimmigem Humor ihre Anerkennung als Person fordert, dieses ebenso tapferen wie verletzbaren Ich, das „weiterlebt“, eine Provokation und eine Zeugin. Sie nennt Namen, sie analysiert Situationen und Zustände, sie vergisst keine Kränkung (und auch keine Guttat), weil sie sich als jemand empfindet, der verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen: unter allen nur denkbaren Umständen.

Aber sie ist keine Moralpredigerin: Sie erzählt. Wir erfahren vieles aus dem akademischen Leben an amerikanischen, deutschen und österreichischen Universitäten, das auch über ihren „Fall“ hinaus zu wissen wichtig ist. Sie verhehlt die Genugtuung über ihren späten Erfolg als Autorin, der sie erstaunt und befriedigt, nicht, den Stolz darüber aber widmet sie denen, die ihn nicht haben durften.

So ist sie alt geworden und hat sich fast so etwas wie Weisheit zugelegt. „Mit jedem Verlust gleitet der Fluß abwärts, auf jeder Reise bröckelt ein Stück Ich ab. Was verloren geht, bist immer du selbst, und der nächste Ankunftsort besteht, wie die vorigen, aus dem Jetzt und dem Damals, es gibt keinen neuen Anfang, nur Fortsetzungen auf einem Weg, der zusehends schmaler wird. Hat sich die Reise gelohnt? Naja: ‚Es ist uns schon schlechter gegangen.’ So schließt ihr Buch, das unnachgiebig mit bedingungsloser Ehrlichkeit ein exemplarisches Leben resümiert. Noch die Gedichte, die sie zuweilen in den Text setzt, reden von nichts anderem – in der Sprache der Poesie. Wir haben Grund, uns vor diesem Leben, vor dieser Frau zu verneigen.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

  • Klüger, Ruth: unterwegs verloren. Erinnerungen. Verlag Paul Zsolnay, Wien 2008. 238 S., 19,90 €. ISBN: 978-3552054417

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