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Essay: Das Spiel mit dem Unvollkommenen

Die Handlung, zuweilen auch mit dem englischen Wort "Plot" bedacht, "meint den Ablauf der Geschehnisse in einem erzählenden oder einem dramatischen Text. Sie ist zu unterscheiden von der Geschichte, der Story, welche diesem Handlungsgerüst zugrunde liegt." (Eberhard Hermes: Abiturwissen - Grundbegriffe der Literatur von A - Z. Klett Lerntraining; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1998, S. 88f)

Bücherbrunnen Waldmichelbach - (c) Bildermichel/PIXELIO

Den gewiss allseits bekannten Kennzeichen einer Handlung, wie zum Beispiel ihren Elementen, ihrer Verlaufsstruktur, den Kriterien für die Unterteilung ihrer Art oder ihrer Perspektive sowie ihrer Erzählweise möchte ich nun ein mindestens ebenso bekanntes Kennzeichen hinzufügen, das sowohl die Klassiker des Altertums als auch die Größen der Moderne? auszeichnet, selbst wenn es trotz allem ein eher unscheinbares Dasein führt. Und das gewiss nicht ohne Grund; denn es handelt sich bei diesem Kennzeichen zunächst um die Unvollkommenheit. Man braucht sie zwar unbedingt für das erfolgreiche Erzählen, doch belastet sie auch. Wer hebt schon gerne das Unvollkommene hervor? Nur im Untertitel einer Erzählung darf es zuweilen geheimnisvoll mitschwingen: "Doch die Vergangenheit holte ihn ein ..." Eine perfekte Vergangenheit ohne Unvollkommenheit wird es gewiß nicht gewesen sein, die "ihn" schließlich einholte.

Eine Ausnahme bildet lediglich das Absolute, z.B. der Fluch?, begann doch schon das Leben auf der Erde mit einem Fluch, einer Art verfluchter Ur-Schuld. Darf es da verwundern, wenn hinter einem zunächst spielerisch abgehandelten "Fluch der Karibik" letztlich ein noch viel größeres Unrecht, nämlich der Frevel an einer Göttin steht, der im letzten Teil der Filmgeschichte seine Abgeltung fordert? Wie eine unwillentliche Entwicklung zum Urgrund, so wiederholt diese Filmgeschichte, was J.R.R.Tolkien vor Jahrzehnten mit dem harmlosen "Kleinen Hobbit" für seine Kinder begann, nicht ahnend, dass dieser Erzählstoff ihn alsbald derartig packen würde, so dass er letztendlich dem einen Diebstahl des einen sagenhaften Ringes gegen alle Kritik seiner Mitmenschen auf den Grund gehen musste, um mit dem "Herrn der Ringe" ein Mythenwerk zu schaffen, das mit seiner eigenen Lebenswelt eine große Leserschaft hervorrief, die seinerzeit zum Beispiel in den USA zeitweise auf Stickern den Zauberer "Gandalf for President" wünschte.

Die Leser lieben Wendungen und Überraschungen, sonst wird nicht nur ein literarisches Werk schnell als langweilig erlebt. Eine Handlung benötigt daher einen Motor, der nicht nur das Spinnrad für den Roten Faden des Geschehens antreibt, sondern auch den Leser durch die Erzählung trägt, bewegt oder zieht. Letzteres wäre nahezu ideal.

Was aber zieht den Leser? Ich behaupte, seit Anbeginn des Erzählens ist es die Unvollkommenheit, wie auch immer sie beschaffen sein mag; sie stets das Böse zu nennen hieße, häufig zu krass zu urteilen. Das Unvollkommene reißt jeden Leser mit sich, und vor Urzeiten fesselte es gewiss auch die Hörer: Was für Folgen hat zum Beispiel die Übertretung eines Verbotes, mit anderen Worten, die Unvollkommenheit des Gehorsams? So etwas Dummes! Ein Verbot übertreten, das hat doch Folgen! Und ob. Es hat Folgen: Adam und Eva trieb es aus dem Paradies, und der Tod umlagerte fortan die Menschen; wahrlich ein Thema zum Hinhören.

Die unverschuldete Unvollkommenheit ist nicht minder interessant: Fehlt in den Märchen zum Beispiel den Mädchen die Mutter, hat das üble Folgen: Aschenputtel? muss in der Asche wühle, und Schneewittchen kostet der Verlust der Mutter fast das Leben. Doch das Glück wartet.

Damit kommen wir zur zweiten Regel dieses Motorlaufs in einer Handlung: Der Gegensatz ist zu beachten, das "Antithetische": Der Unvollkommenheit hat das oftmals durch sie selbst ermöglichte vollkommene Glück zu folgen. Das ist häufig der Sinn der Unvollkommenheit: Das geheimnisvoll beim Tanz auftretende Aschenputtel wird von einem Prinzen herausgeholt aus dem täglichen Wühlen in der Asche, und Schneewittchens Rettung ist das Stolpern der Zwerge beim Tragen ihres Glassarges: Sie spuckt dadurch den vergifteten Apfel aus ihrem Hals, und der über ihrem Glassarg trauernde Prinz sieht das Mädchen erblühen in seiner erwachenden Schönheit.

Wehe aber, wenn das vollkommene Glück am Ende fehlt! Es bleibt ein Sehnen auf ewig zurück: Die Seejungfrau aus Andersens? Märchen verharrt, auf einem Stein zu einer Skulptur erstarrt, seit Jahrzehnten in Kopenhagens Gewässern vor dem nahen Ufer. Sie darf einfach nicht sterben und in ihrer enttäuschten Liebe vergehend zu einem Luftgeist werden, wie es Andersens Märchen vorsieht. Das Sehnen der Leser nach diesem fehlenden zweiten Takt des Handlungsmotors kann sogar derart übermächtig werden, dass es bei einem besonders bewegenden Schicksal schließlich zwangsweise nachholt, was der Autor bzw. die Autorin der ursprünglichen Erzählung den Lesern vorenthielt: das vollkommene Glück. Was der Wind verwehte, musste die Zukunft zurückbringen.

Dieser Zweitakt-Motor des durch Unvollkommenheit erfüllenden Erzählens ist uralt. Wie bereits fast angedeutet, frischt er sogar die heilige Überlieferung? der Bibel auf. In der Bibel wird im zweiten Buch der Makkabäer am Schluss vom Erzähler des Geschehens als Beispiel angeführt, dass Wasser und Wein, je für sich getrunken, keinen dauerhaften Genuss gewähren. Wasser und Wein in der Mischung jedoch, die würden zum vollen Genuss führen: Das fast vollkommene Geschehen in der biblischen Überlieferung sollte daher ebenfalls mit Qualität erzählt werden, folgt daraus. Das ist DIE Mischung, und der Zweitaktmotor läuft. Und dieser Bericht des Autors über die Zeit der späteren Nachfolger Alexanders des Großen, u.a. Antiochus IV. (175-164 v.Chr.), hatte wahrlich genug Unvollkommenheiten sogar in den eigenen Reihen zur Verfügung, um seine Berichte über das Einwirken Gottes im Kampf des Judas Makkabäus für Israels glückliches Fortbestehen mit reichlich Handlung zu versehen.

Hätte es aufgrund dieser Zweier-Taktung dann nicht schon bei Adam und Eva ebenfalls ein Happy End? geben müssen? Wo ist in diesem Fall das Vollkommene der Erzählung? Abwarten! Wo ist das Ende dieser Erzählung und wo ihr Anfang? Sie beginnt meiner Ansicht nach bereits mit dem ersten Kapitel des Ersten Buches Mose; denn alles Erzählte erhält von Gott vorab das Urteil, "und fürwahr, es wird sehr gut", und anschließend geht es über gewaltige Unvollkommenheiten hinweg wie Ungehorsam, Mord, Besäufnis, Betrug, Menschenhandel sowie Stottern und Totschlag beim letzten Teilnehmer - bei Mose nämlich als Folge seiner frühkindlichen Traumatisierung wegen seiner Aussetzung am Nil und seiner späteren Abgabe an Pharaos Tochter.

Letztlich aber geht es im Fünften Buch Mose bis hin zur Grenze des Landes Kanaan, das dem Volk Israel von Korn und Most die Fülle verspricht; und "dessen Himmel triefen von Tau"; das ist das vollkommene Glück eines jeden Landmannes, vergleichbar dem Segen Isaaks an seinen Sohn. Das ist Vollkommenheit in der erzählten Realität, die der Zufall oft genug wieder auf den Weg zu bringen hatte, selbst wenn es zuvor in die Grube ging und später ins Gefängnis wie beim Träumer Joseph; doch all dies führte ihn schließlich zum Glück einer fast vollkommenen Erhöhung; denn nur um seinen Stuhl wollte Pharao höher sein als Joseph.

Schiller & Goethe, Denkmal in Weimar - (c) Christian Rohr/PIXELIO

Ist es da als ein Wunder anzusehen, wenn dieses Jahrtausende alte Rezept der Taktung von Unvollkommenheit im Wechsel mit vollkommenem Glück von erfolgreichen Autoren jedweder Couleur angewendet wurde und wird, so z.B. von Hedwig Courths-Mahler?, die von sich selbst sagte, dass (sinngemäß) die Werke von Schiller und Goethe zwar in den Bücherschränken der Leute stünden, doch gelesen würden ihre Romane von den Leuten, Kitsch hin oder her. Selbst die modernsten Erzähler und vor allem Filmemacher kommen ohne dieses Rezept nicht aus. Wie langweilig wäre der Tagesablauf, wenn nicht im Fernsehen täglich diese willkommene Taktung von "Gut und Böse" in steter Wiederholung des sich ewig drehenden Handlungsmotors zu erleben wäre: Die "Guten und die Schlechten Zeiten" muss es daher ebenso lange geben, wie es Menschen gibt. Sie sind wie ein Gesetz "Unter uns" Menschen.

Sogar "I, Robot" (Film nach einem Roman des Physikers Isaac Asimov?) und sein humanoider Nachfahre David im Film, "A.I.", von Steven Spielberg durften daran nichts ändern: Alles wird erst dann gut, wenn eben nicht alles gut ist. "Um ein Haar" hätte nämlich der Kind-Roboter David sein Ziel, von seiner menschlichen Mutter geliebt zu werden, nicht erreicht. Doch er hatte eben dieses Haar: eine Haarlocke seiner Mutter. Von seinem menschlich eifersüchtigen Stiefbruder dazu verführt, hatte er es seiner Mutter während ihres Schlafes verbotenerweise abgeschnitten, so dass sie nach Jahrtausenden mit Hilfe dieses Haares für einen lebenslangen Tag lebensecht geklont werden konnte zur sehnlichst erwarteten Wunscherfüllung: Liebe von ihr empfangen und ihre Liebe erwidern.

Selbstverständlich kam seinerzeit auch der Dichterfürst Goethe nicht am Gegensatzpaar, an "gut und böse" vorbei, so dass Mephistopheles? sich im "Faust" vorstellt als "Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Eine wahrlich ewige Regel, die sogar im Kleinen wirkt: "Lass die Leute reden", heißt es in einem Pop Song. Was wäre eine Kleinstadt ohne Gerede? "Langweilig!" Und sogar ein guter Vortrag ist erst dann gut in der Nachwirkung, wenn er Unvollkommenheiten enthält, wie mich die Erfahrung lehrte. Eine nur gute Predigt in der Kirche lädt daher zum Einschlafen ein. Fatal. Und deshalb kommt auch die moderne Kirche nicht ohne den Teufel aus; er verkörpert "Das sogenannte Böse", wie es vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz in seinem gleichnamigen Buch genannt wird.

Die kürzesten literarischen Fassungen, um das vollkommene Glück gerade durch die Unvollkommenheit zu besiegeln, liefert die Dichtkunst; denn sie packt das Geschehen wahrlich dicht. Hier eine anonyme mittelalterliche und eine moderne Kurzfassung:

Dû bist mîn, ich bin dîn:
des solt dû gewis sîn.
du bist beslozzen
in mînem herzen:
verlorn ist das slüzzelîn:
dû muost immer drinne sîn.

Einst stießen zwei Blicke
zusammen
Craquelée
Ein Kelch
aus dem sie
die Gemeinsamkeit tranken

"Nichts ist vollkommen", so stellt jedoch etwas missmutig ein Fuchs, der gezähmte Freund des "Kleinen Prinzen", fest. Den Autor dieser Erzählung, der viele Nächte freiwillig und unfreiwillig in der afrikanischen Wüste verbrachte oder verbringen musste, den führte der Tod des Kleinen Prinzen schließlich hinauf zu den Sternen, von denen er zuvor auf die Erde gekommen war. Dennoch machte ihn die Betrachtung der Sterne nicht restlos glücklich. Ein unauslöschliches Sehnen nach dem Wiedersehen, dem zweiten Takt des Handlungsmotors, ließ auch ihn ruhelos warten.

Die Trennung, der Tod, das Absolute mithin kann aufgrund der Wirkung alleine bestehen, sagten wir oben. Deshalb begleitet es uns in Gestalt der Trauernden vom Beginn schriftlicher Aufzeichnungen an bis heute: Gilgamesch, Orpheus bzw. Orfeu negro (A. Camus) lauten ihre Namen. Auch die unbekannten Toten des Zweiten Weltkrieges sind hier zu nennen, an die sich zum Beispiel der Liedermacher? Wolf Biermann? erinnert, "kleingebrannt für das Massengrab."

Prekär wird die Frage nach der Bedeutung des Unvollkommenen allerdings, wenn wir uns dem "Sakrileg" zuwenden, das uns Dan Brown? serviert hat (filmisch als "Da Vinci Code" bekannt). Worin liegt hier das Unvollkommene? In der religiösen Haltung der Leser? In der ungenauen Überlieferung?? Oder gar in einer Beziehung Christi zu einer Frau?!

Halt! Wie kann so etwas sein: Was für uns Menschen das vollkommenste Glück bedeutet, kann doch nicht einer Unvollkommenheit gleich sein? Wohl nicht unbedingt ... Doch lassen wir die letzten Überlegungen lieber außen vor; denn "Nichts ist vollkommen", wie der schlaue Fuchs bei Saint-Exupéry? feststellt. Und deshalb wird im Film "nach dem Happy End für jewöhnlich abjeblendt", formulierte Kurt Tucholsky. Das Spiel mit dem Unvollkommenen und seinem Gegensatz ist daher beendet.

Autor: Wolf Kelpinski

Fotos: Bildermichel und Christian Rohr / www.pixelio.de.

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