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White Bicycles

von<br> Joe Boyd

Wo soll man anfangen? Vielleicht mit Brian Eno. Der hat „White Bicycles“ das beste Buch über Musik genannt, das er seit Jahren gelesen habe. Brian Eno hat Recht. Die jetzt auf Deutsch erschienenen autobiografischen Erinnerungen von Joe Boyd an die Musik der späten fünfziger bis frühen siebziger Jahre sind ein geniales Stück Musik- und Kulturgeschichte. Boyd war, wie er selbst schreibt, die graue Eminenz der Szene. Der legendäre Produzent hielt sich meist im Hintergrund, erlebte oder gestaltete jedoch das Musikbusiness dieser an aufregenden Volten nicht armen Zeit entscheidend mit.

Allein die Liste der Künstler, mit denen Boyd arbeitete, ist beeindruckend. Der Harvard-Absolvent begann seine Karriere damit, Auftritte längst vergessener Bluesgrößen zu organisieren. Für sein erstes Konzert in Princeton buchte der achtzehnjährige Boyd 1960 den Bluesgitarristen Lonnie Johnson, den er im Telefonbuch ausfindig gemacht hatte und eigens mit dem Auto aus Philadelphia abholte. Das Konzert fand im Wohnzimmer eines Nachbarn statt – und war ein voller Erfolg. Später folgten Engagements als Europa-Tourmanager für Jazz- und Blues-Revues mit so illustren Musikern wie Muddy Waters, Coleman Hawkins, Sonny Terry, Roy Haynes, Otis Spann, Sister Rosetta Tharpe oder Reverend Gary Davis.

Abtauchen in die Folkwelten von New York und Cambridge

Boyd tauchte ab in die Folkwelten New Yorks und Cambridges, erlebte als Bühnenmanager des Newport Folk Festivals 1965 Bob Dylans Übertritt zur E-Gitarre, den epochalen Wendepunkt vom Folk zum Rock. „Jeder, der die Geschichte der Sechziger als eine Reise vom Idealismus zum Hedonismus beschreiben wollte, konnte den Umschwung auf etwa 21:30 Uhr am 25. Juli 1965 datieren“, schreibt Boyd über das Ereignis.

Ein Jahr später zog er nach Swinging London, initiierte den Notting Hill Carnival mit und eröffnete den sagenumwobenen UFO-Club, wo Pink Floyd und The Soft Machine erste Gehversuche machten (Boyd produzierte auch die erste Pink-Floyd-Single „Arnold Layne“). Als das Geld knapp und die psychedelische, drogeninfizierte Gegenkultur zum Mainstream wurde („Als es Sommer wurde, sah man überall Kaftane und Perlenketten. Das UFO wurde überschwemmt von Touristen und Wochenend-Hippies“), schloss er den Laden.

Obskure Folkmusik in räucherstäbchenschwangerer Atmosphäre

Denn eigentlich wollte Boyd immer Schallplattenproduzent werden: „Geld verdienen mit Zuhören“ – sein Traumjob. Er hatte sich inzwischen in der britischen Folkszene umgetan und dabei The Incredible String Band entdeckt, deren Debüt er produzierte. The Incredible String Band – das waren diese Hippies, die stellvertretend für all die Peinlichkeiten und schrecklichen Geschmacksverirrungen stehen, die der heutige gemeine Durchschnittsbürger mit den Sixties verbindet: obskure Folkmusik in räucherstäbchenschwangerer Atmosphäre von zugedröhnten, langhaarigen Gammlern in wehenden Zirkusgewändern.

Für Künstler – auch jüngere, angesagte wie Tocotronics Dirk von Lowtzow? – waren sie dagegen stets Quelle der Inspiration. Paul Mc Cartney? nannte „The Hangman’s Beautiful Daughter“ das beste Album des Jahres 1968. Im aktuellen Folk-Revival bilden Boyds Arbeiten mit der Band die Referenzgröße für Bonnie „Prince“ Billy, Joanna Newsom, James Yorkston oder Devendra Banhart. Zu deren Vorbildern gehören natürlich ebenso die Meisterwerke von Fairport Convention und des introspektiven Nick Drake, die Boyd ebenfalls entdeckte und aufnahm. Nachzuhören sind einige von Boyds Produktionen übrigens auch auf einer CD zum Buch mit zum Teil rarem Material (etwa einer Aufnahme mit dem jungen Eric Clapton).

Joe Boyd - ein geistreicher Erzähler und ein begnadeter Musikproduzent

In „White Bicycles“ geht es Boyd um das Entdecken, Machen, Genießen von Musik, nicht um kopflastige Analysen und Interpretationen. Meisterhaft schafft er es, seine innere Leidenschaft für die Musik aufs Papier zu bringen. Boyd ist ein ebenso geistreicher Erzähler wie begnadeter Produzent. Seine Geschichten sind anekdotenreich, amüsant, teils mit philosophischen Einsprengseln, wehmütig zuweilen (etwa wenn er über die damalige analoge Aufnahmetechnik schreibt), aber nie verklärend. In den 33 kurzen Kapiteln spiegelt sich auch der Wahnsinn dieser Epoche: Drogentote, verkannte Talente, tragische Unfälle, Sektenwahn. Noch mehr aber Boyds tiefe Zuneigung zu seinen Künstlern und ihren Werken.

Mit „White Bicycles“ gelingt Joe Boyd nicht zuletzt so etwas wie die Ehrenrettung einer Ära, die gerade bevorzugt von den Kai Diekmanns dieser Welt runter gemacht wird. Nein, es war wirklich nicht alles schlecht damals, wie der „Spiegel“ vor einigen Wochen titelte. Ganz sicher nicht die Musik! Er sei, schreibt Boyd am Schluss des fesselnden Buchs, der lebende Gegenbeweis für zumindest einen Mythos der Sechziger: „Ich war dabei, und ich kann mich dran erinnern.“ Vielen Dank, dass Sie es auch aufgeschrieben haben, Mr. Boyd.

Literaturangaben

  • Boyd, Joe: White Bicycles. Musik in den 60er Jahren. Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Verlag Antje Kunstmann, München 2007. 352 S., ISBN: 978-3888974915

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