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Von Arno Schmidt stammt die ungeheuerliche Bemerkung, dass er "ein ganzes Konversationslexikon? von 1845 mit 34 Bänden?" zur Abfassung seines Opus magnum "Zettels Traum" habe "Wort für Wort" lesen müssen, "um mein Gehirn in die Falten jener Zeit zu legen". Schmidt meinte den "Pierer", doch die emphatische Attitüde der Verfügung über ein Universalwissen der Zeit, das zugleich seine Epoche abbildet, teilen alle großen Lexika-Projekte vom 18. bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, ganz gleich, ob sie unter den Namen "Brockhaus" (seit 1809), "Pierer" (seit 1822), "Meyer" (seit 1839), "Herder" (seit 1854) angegangen und aufgestellt wurden. Der Rückblick in die Historie des lexikalischen Wissens zwingt dem Büchermenschen Tage die melancholische Einsicht ab, dass sich eine Epoche schließt.

Das Buch als Leitmedium? der Aufklärung, des politischen Fortschritts und als Institution eines Wissens, das aus den dicken, mit Leder eingeschlagenen Bänden? sowohl Solidität als auch Zeitresistenz sprechen lässt, tritt in den Schatten der neuen Götter, die Schnelligkeit, Aktualität und Mulimedia? heißen. Das Weltnetz ist kein Geschäftsmodell für Inhalte. Von Anfang an waren sie einem rapiden Prozess der Entwertung ausgesetzt. Es ist bereits absehbar, dass der Absturz des Weltnetzes für künftige Generationen die Folgen haben wird, die man einmal mit dem weitgehenden Verschwinden schriftlicher Aufzeichnungen zwischen der Spätantike und dem Hochmittelalter vergleichen kann. Man wird sich selbst zur Erinnerung, wird zu einem Menschen, an den man sich nicht mehr erinnern kann. Wer sich nicht findet, kann sich auch nicht verstecken. Wie anders die Dichterinnen und Dichter seit der Romantik geworden sind: In Talkshows und Interviews? kommen sie uns entgegen und haben eine Meinung, worüber auch immer, sie sagen uns, was sie denken. Wie anders dagegen ihre Bücher sind, wie wenig die uns über den verraten, der sich, wie man früher einmal sagte, in ihnen ausdrückt, wie auffallend wenig. Wer Daniel Kehlmann ist, was ihn bewegt, ja ob ihn überhaupt etwas bewegt, ihn schlaflos macht, ihm Angst oder Glück einjagt: Seine Bücher sagen es nicht. Die jungen und mitteljungen Autoren unterhalten, kommentieren, zaubern und beschwören, aber: Sie drücken sich nicht aus. Im Gegenteil: Sie verbergen sich hinter ihrem Können geradezu, als genierten sie sich nicht nur, ich zu sagen, sondern auch ich zu meinen. Das entlastet den Leser. Da kommt ihm keiner zu nahe und rückt ihm auf den Pelz, will etwas von ihm. Da wird das Podium nicht verlassen, die vereinbarte Grenze zwischen Autor und Leser wird immer respektiert. Was einst als Demokratisierung und Befreiung gefeiert wird, ist letztendlich die Entwertung einer Kulturproduktion, die einer Industrie zu Gute kommt, die Kulturgüter als "Content" versteht, sowie Autoren und Kreative als Inhaltslieferanten betrachtet.

Jorge Luis Borges? hat all das mit seiner allumfassenden »Bibliothek von Babel« analog vorweggenommen: die Verbindungen zwischen dem dezentralisierten Internet? von YouTube, Blogs? und Wikipedia? - dem sogenannten Internet? 2.0 - seine Erzählungen lassen den Leser zu einem aktiven Teilnehmer werden. Jorge Luis Borges´? Phantasie lässt einen vollständig digitalisierten und allgemein verfügbaren Mega-Textkorpus erkennen, von dem einige Professoren der Computerwissenschaften träumen. In „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ wird die anonyme Wissensgemeinschaft der Wikipedia? vorweggenommen, in „Funes“ die Idee des „Life-Loggers“ Gordon Bell, der mit einem Audiorecorder und einer winzigen Kamera um den Hals, die alle sechzig Sekunden ein Bild produziert, ein manisches Alltagsprotokoll erstellt, um es in digitalen Speichern aufzubewahren. Für den Argentinier haben sich die Dinge immer wieder in einander gegenüberliegenden Spiegeln aufgelöst, die Nähe der Wikipedia? zur Bibliothek von Babel liegt auf der Hand: Man setzt tausend Schimpansen an die Schreibmaschine?, und irgendwann kommt King Lear heraus. Das Weltnetz ist voller Cy-Borges, sie erkennen Zeichen, wohin man blickt. Seit über hundert Jahren haben die Schriftsteller den Glauben an die große, einheitliche Erzählung verloren und experimentieren mit allen möglichen Formen des Fragmentarischen, der Multiperspektivik, der Montage, der Parodie. Unter Naturwissenschaftern hat die Frage nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik etwa den gleichen Stellenwert wie unter Geisteswissenschaftern die Frage, ob man Werke? von Shakespeare kennt.

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