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„Auch ich kam aus Deutschland …“ Das private Adressbuch 1926–1940.

von<br> Heinrich Mann

Ob als Papierheft oder virtuell gespeichert im Computer oder im Mobiltelefon – ein Adressbuch? braucht jeder, der kein verlässliches fotografisches Gedächtnis besitzt. Im Internet, auf Plattformen wie MySpace, flickr oder XING, ist die Kontaktpflege mittlerweile zum Selbstzweck avanciert. Nach dem Motto „zeige mir, wen du kennst, und ich sage dir, wer du bist“ ist öffentlich einsehbar, wer mit wem Kontakt pflegt und unter welcher Adresse diese Kontakte zu erreichen sind.

Berliner Netzwerk

Was heute großspurig „networking“ heißt, gab es natürlich auch früher schon. Die Einträge in jedem privaten Adressbuch, egal aus welcher Zeit es stammt, sind nichts anderes als ein Überblick über die Umgebung des Besitzers und seiner Beziehungen zu ihr. Nur dass die mit Bleistift verzeichneten Kontakte in einem ledergebundenen Papierheft von 1926 nicht mit einem Mausklick zu erreichen sind, sondern in mühsamer Kleinarbeit in Archiven? recherchiert werden müssen. Dieser Arbeit hat sich Christine Fischer-Defoy? gestellt, Herausgeberin? von Heinrich Manns privatem Adressbuch von 1926 bis 1940, das jetzt als Buch im Leipziger Verlag Koehler & Amelang? vorliegt.

Heinrich Mann war im Jahr 1928 von München nach Berlin gezogen, weil er glaubte, „dort sind wenigstens die Köpfe besser, wenn auch nicht immer die Herzen“ – ein Glaube, von dem er binnen weniger Jahre abrücken musste. Ab 1926 war er Mitglied, später Präsident der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste?. Am 21. Februar 1933, sechs Tage nachdem er zum Austritt aus der Akademie gezwungen worden war, floh er zunächst nach Frankreich und schiffte sich 1940 nach Amerika ein (wo er übrigens ein neues Adressbuch anlegte).

Seine Pläne, nach dem Krieg in die DDR umzusiedeln, konnte Heinrich Mann nicht mehr umsetzen, er starb 1950 in Santa Monica. Diese Biographie – Schriftsteller mit Wohnort im damaligen geistigen Zentrum Deutschlands, Opposition zum NS-Regime, Exilstationen Frankreich und USA – ordnet Heinrich Mann in einen Kreis gleich gesinnter Künstler und Intellektueller ein, mit denen er korrespondierte? und sich traf, und die natürlich alle in seinem Adressbuch auftauchen.

Adressen, geändert

Dieses Adressbuch enthält rund 450 Einträge und ist im Buch von der ersten bis zur letzten Seite als Faksimile in Originalgröße (9 x 11,5 cm) wiedergegeben. In einem zweiten Teil sind die Notizen editorisch erschlossen, mit Anmerkungen versehen und kommentiert, oft mit Auszügen aus der Korrespondenz zwischen Heinrich Mann und seinen Bekannten, die deutlich machen, in welchem Verhältnis sie zueinander standen.

Wie bedeutsam verlässliche Beziehungen zu jener Zeit waren, lässt sich daran ablesen, dass die Adressen vieler Berliner Bekannter zunächst durch französische und später durch US-amerikanische Anschriften ersetzt werden, dass also viele denselben Exilweg nahmen wie Heinrich Mann. Er und seine Frau Nelly überquerten sogar zusammen mit Franz Werfel?, Alma Mahler-Werfel und Golo Mann? zu Fuß die französisch-spanische Grenze. Ebenfalls spannend zu lesen ist, wie Heinrich Mann auch nach Kriegsende auf das Berliner Adressbuch zurückgriff, um seine Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten. Er fühlte sich in Amerika nie richtig zu Hause; seine Frau beging dort Selbstmord und er selbst stand immer im Schatten seines berühmten Bruders.

Zeitsignatur und Beziehungsprotokoll

Heinrich Manns privates Adressbuch ist also ein Kompendium? der Kulturgeschichte der Weimarer Republik und des Exils. Aber es ist mehr als das. Denn zwischen den Adressen der berühmten Kollegen stehen auch solche von Apotheken, Antiquariaten, Ärzten und „Abschreiberinnen“, und auf der vorletzten Seite hat Mann, berüchtigt für seine Liebschaften, eine Liste mit Frauennamen und dazugehörigen Daten notiert. Diese Einträge sind ebenfalls Punkte auf dem individuellen Koordinatensystem, in dem Heinrich Mann gelebt hat – ein Schlüssel zu seiner Welt. Auch auf einem aktuellen Berlin-Stadtplan lassen sich seine Wege noch nachverfolgen.

Insofern ist dieses Buch weit mehr als ein Hilfsmittel für künftige Biographen?. Es ist ein Beziehungsprotokoll an der Schnittstelle zwischen Leben und Werk, das den realhistorischen Hintergrund für die fiktionalen und politischen Texte bildet. Das wird noch einmal besonders deutlich anhand des reproduzierten Originals: Handschrift?, Anordnung, Aus- und Unterstreichungen erzählen viel mehr über die Person, als gedruckter Text es kann.

Spannende Lektüre

Wie liest man ein solches Buch? Jedenfalls nicht von vorne nach hinten. Man blättert hin und her, versucht die handschriftlichen Einträge zu entziffern und vergleicht sie mit den gedruckten, sucht im Personenregister? nach bekannten Namen, geht Querverweisen? nach: Man liest sich fest. Erstaunlich für ein Buch, das aus nichts anderem als den nüchternsten Fakten – Namen und Adressen – besteht. Der Band zu Heinrich Mann ist bereits der vierte einer Reihe, die demnächst mit dem privaten Adressbuch Hannah Arendts fortgesetzt werden wird. Die vorherigen Bände befassen sich, ebenfalls unter der Regie von Christine Fischer-Defoy, mit den Adressbüchern von Paul Hindemith, Marlene Dietrich und Walter Benjamin?.

Übrigens ist Heinrich Mann doch noch nach Deutschland zurückgekehrt: 1961 wurde seine Leiche nach Berlin überführt und in einem Ehrengrab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.

Literaturangaben:

  • MANN, HEINRICH: „Auch ich kam aus Deutschland …“ Das private Adressbuch 1926–1940. Hrsg. von Christine Fischer-Defoy. Koehler & Amelang, Leipzig 2007. ISBN: 978-3733803544. 276 S., 24,90 Euro.

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