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Auf Messer Schneide

von<br> William Somerset Maugham

Swing, Charleston, Bubikopf, Emanzipation, Glücksspiel, Prohibition, Cosa Nostra: In seinem Roman „Auf Messers Schneide“ beschwört William Somerset Maugham? nostalgisch den Glanz der „Goldenen Zwanziger“ herauf - einer Epoche, die schon untergegangen war, als er 1944 sein kleines, aber feines Meisterwerk verfasste, das unter dem Originaltitel "The Razor’s Edge" erschien. Anhand der Figur Larrys, einem Amerikaner, der sich einen spirituellen Weg durch das Labyrinth des Lebens bahnt, schildert Maugham eine verwirklichte Alternative zur schrillen wie oberflächlichen Gesellschaft der „Roaring Twenties“.

Zu Beginn von Larrys Trip, der von Chicago über Europa nach Indien führt, meint der Protagonist, seinen Wissensdurst und seinen Hang zur Mystik befriedigen zu können. Ob das Geheimnis des Lebens enträtselt werden kann, schwebt jedoch als Verneinung über der Erzählung.

Der Titel

Für seinen vielleicht anspruchsvollsten Roman wählte der 1874 geborene und 1965 verstorbene englische Schriftsteller einen Titel, der den Leser in die Irre führt. Die Assoziationen und Konnotationen sind vielfältig - sowohl in der englischen Originalfassung „The Razor’s Edge“ als auch in der deutschen Übersetzung. Etwas steht auf „Messers Schneide“, wenn eine Entscheidung auf Leben und Tod getroffen werden muss. „Über die Klinge springen“ ist eine Metapher für den Tod. Man „wetzt das Messer“ vor einer Konfrontation oder steckt in einer vertrackten Situation, die gefährlich werden kann. Und so existieren neben Maughams Werk unter dem Titel „Auf Messers Schneide“ ein Film, der den sinnigen Untertitel „Rivalen am Abgrund“ trägt, und ein Buch, das spektakuläre Fälle der Rechtsmedizin schildert.

Beide haben nichts mit Maughams Epik zu tun. Denn hier liegt statt Thriller? oder Pathologie-Krimi ein philosophischer Roman vor, der die ewigen Fragen nach der menschlichen Existenz aufwirft. Der Titel geht zurück auf ein fernöstliches Sprichwort, das das Streben nach Erkenntnis und Weisheit thematisiert: „Die scharfe Schneide eines Messers ist schwer zu überschreiten. Die Weisen sprechen davon als dem Hindernis des Weges.“

Vom Aufsteiger zum Aussteiger

Larry (Laurence) Darell, ein Waise, und Isabel Bradley, reich, aber nicht zu reich, charmant und verwöhnt, sind ein Traumpaar seit Kindertagen. Für die Liebenden wie für alle anderen ist klar, dass sie heiraten werden. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges meldet sich Larry, erst 16jährig, jedoch freiwillig zur Fliegerstaffel. Bei einem Manöver rettet ein Kamerad ihm das Leben und kommt selbst dabei um. Dieser Vorfall traumatisiert Larry und wird sein ganzes Leben für immer verändern. Nichts läuft mehr auf den vorgezeichneten Bahnen und aus dem potenziellen Aufsteiger wird ein Aussteiger. Zurück in Chicago findet er zunächst Verständnis von Isabel und deren Mutter Louisa. Als er nach einem Jahr immer noch nicht bereit ist, eine erstklassige Arbeitsstelle anzunehmen, werden seine Freunde ungeduldig. Auch der millionenschwere junge Gray Maturin, der Isabel vergöttert, drängt Larry den Karrierepfad einzuschlagen. Larry protestiert, indem er sich entzieht. Er macht sich auf zu einer Reise um die Welt.

Europa

Larry pilgert nach Paris, wo er glaubt, sich finden zu können. Hier genießt er die Nähe von Künstlern, Schriftstellern und Denkern aller Couleur. Wenn er nicht liest oder sich verschiedenen Studien widmet, treibt er sich in Cafés am Montmartre herum. Als er nach abermals einem Jahr nicht bereit ist, nach Chicago zurückzukehren, um eine Stellung anzunehmen, löst Isabel die Verlobung. Larrys ererbtes Einkommen ist ihr zu gering, sie hat kein Verständnis mehr für sein Nichtstun und sein Verlangen nach Selbsterkenntnis.

„Ich möchte mir klar darüber werden, ob es einen Gott gibt oder nicht. Ich möchte herauskriegen, warum es das Böse gibt. Ich möchte wissen, ob ich eine unsterbliche Seele habe oder ob mit meinem Tod alles zu Ende ist.“ Vom Hunger nach (Selbst)Erkenntnis berauscht, meditiert Larry in einem katholischen Kloster, nimmt die Arbeit eines Bergmans im Kohlenpott an, eines Matrosen, eines Mechanikers.

Die Protagonisten

Statt mit dem Verlobten, der sich diesen existentiellen Fragen stellt, nach Griechenland zu reisen, heiratet Isabel ihren langjährigen Verehrer Gray und nimmt einen entsprechend hohen gesellschaftlichen Rang ein. Es ist das Streben nach Sicherheit, welches ihr Handeln bestimmt. Ihr Onkel Elliot Templeton, ein liebenswerter wie großzügiger Snob, begrüßt Isabels Entscheidung für das Finanzgenie Gray. Nach dem Börsencrash - Gray hat zwar Geld verloren, ruiniert ist er indessen nicht - zieht Isabel mitsamt ihrer Familie zu Elliot nach Paris. Dieser spielt eine große Rolle in der High Society und legt äußersten Wert auf seine gesellschaftliche Stellung. Der Bonvivant konvertiert schließlich zum Katholizismus, wovon er sich diesseitige Vorteile verspricht und eine gehobene Position im Jenseits. Er kann erst in Ruhe sterben, nachdem er eine Einladungskarte zu dem wichtigsten Ball des Jahres erhalten hat. Er ist das genaue Gegenteil Larrys.

Als der Reisende nach seinem Indienaufenthalt Jahre später Isabel mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern in Paris wiedersieht, ist seine Leidenschaft erloschen, während sie den Globetrotter immer noch begehrt. Isabel ist eifersüchtig auf Sophie, die Frau, die Larry heiraten möchte und von ihrem selbstzerstörerischen Lebenswandel errettet hat. Und so sorgt Isabel dafür, dass die ehemalige Alkoholikerin rückfällig wird.

Die Götter Indiens

Um die Dreißig lernt Larry bei seinem Aufenthalt in einem indischen Ashram die Vokabeln fernöstlicher Mystik kennen: Brahma ist der Schöpfer, Wischnu der Erhalter und Schiwa der Zerstörer. Die zahlreichen Götter Indiens betrachtet der Suchende nur als Hilfsmittel, „um zu der Erkenntnis zu führen, dass das Ich mit dem höchsten Ich eins ist.“ Als Somerset Maugham den Roman in den 1940er Jahren schrieb, war die westliche Welt noch nicht vertraut mit den „Heiligen Kühen“ Indiens und dem Glauben an das Nirvana. Die fernöstliche Mystik war Europäern wie Amerikanern ein Faszinosum. Schon 1922 - zweiundzwanzig Jahre zuvor - war Hermann Hesses „Siddhartha“ erschienen. Siddhartha, ein junger Brahmane, fahndet wie Larry nach dem Stein der Weisen und ersehnt Gelassenheit und spirituelle Erfüllung. Beide Helden werden ihre Ziele erst durch eigene Erfahrungen erreichen und nicht alleine durch die Lehre Buddhas.

Larry verliert sich im poetischen Klang der Beschreibung eines Brahmans: „das Seiende, die Seligkeit und die Einsicht, das was unveränderlich ist, das immer ist und für alle Zeiten ruht, dem nichts fehlt und das nichts braucht und daher weder Wechsel noch Kampf kennt und vollkommen ist und die Welt erschaffen hat.“ Das Unendliche in eigene Worte zu fassen, danach trachtet Larry. Er ist so sprachgewandt, dass er sich mit seinem Guru auf Hindi verständigen kann und spricht neben asiatischen Dialekten Deutsch und Französisch. Der Aussteiger erkennt jedoch die Grenzen des menschlichen Verstandes auf seiner Suche nach Gott. „Ein Gott, der verstanden werden kann, ist kein Gott.“

Die goldenen Zwanziger

Ironisch und sensibel, überlegen, aber nie arrogant zeichnet Mister M., wie er sich im Buch nennt, ein messerscharfes Porträt einer von Arbeit, Erfolg und Amüsement gehetzten Gesellschaft. Er entlarvt die Cocktailparty-Mentalität der „Goldenen Zwanziger“ als einen einzigen Rausch, der nur eine einzige wilde Nacht lang währte und am Morgen mit einem gigantischen Kater an einem „Schwarze Freitag“ endete. Der Börsenkrach 1929 brachte viele um ihr Vermögen, trieb Spekulanten in den Selbstmord oder holte Finanzjongleure zumindest auf den Boden der Tatsachen zurück.

Jugendrebellion

Mit seiner ist antikapitalistischen, gegen Leistungszwang und Konsumhaltung ausgerichteten Lebensart ist Larry Vorbild der nachfolgenden Jugendgenerationen: Protesthaltung, Rebellion, Nichtstun, Anarchie. Was der zornige Nachwuchs sich auf die Fahne geschrieben hat und die Jugendkultur jeder Epoche als höchsteigenes Patent anmelden möchte, brachte W. Somerset Maugham bereits in den 40er Jahren zu Papier und nahm damit die 68-Revolution vorweg. „Auf Messers Schneide“ bietet genug Identifikationsmaterial für die Jugend der Welt. Trotz ihres Ich-Findungsprozesses bleibt die Figur Larrys jedoch merkwürdig hohl – als sei er mehr personifiziertes Lebenskonzept als lebendige Person. Zunächst vergeblich sucht er Erklärungen, die Generationen vor ihm und nach ihm auch nicht gefunden haben.

Erzählstil

Von den Handlungen und Wandlungen seiner Protagonisten „berichtet“ Maugham in der Ich-Perspektive, als hätte er alles erlebt oder als hätte ihm Elliot, den er in Paris oder London immer wieder trifft, alles erzählt. Um den Figuren Authentizität einzuverleiben, behauptet Maugham sogar, dass nichts erfunden sei, sondern tatsächlich passiert. Als Figur und handelnder Charakter? des Romans springt Somerset Maugham mal zehn Jahre, mal ein Jahr oder nur Monate, um uns von Larry Bericht zu erstatten. Lücken werden rekonstruiert. Mittels der Ellipse | elliptischen Narration lässt er die Zeit fließen – mal langsamer, mal schnell: „Keiner von uns kann zweimal in den gleichen Fluß steigen, denn der Fluß fließt weiter, und der andere Fluß, in den wir steigen, ist auch kühl und erfrischend.“ Nur manchmal verlässt Maugham seine scheinbar objektive Beobachterposition eines Berichterstatters, um sich wertend in die Handlung einzumischen. Er ist selbst Teil der Gesellschaft, deren Oberflächlichkeit er schnittgenau seziert.

Frauen und Tiere

Leider neigt der sonst progressive Schriftsteller dazu, Frauen herabzusetzen, indem er sie mit Tieren vergleicht: „Das, was man taktvollerweise Geschlechtsverkehr nennt, betrachtete sie als eine natürliche Funktion des Körpers wie jede andere. Sie hatte Vergnügen daran und war glücklich, Vergnügen zu bereiten. Sie war nichts als ein kleines Tierchen, aber ein sehr reizendes, anziehendes, zahmes Tierchen.“ Er scheut sich nicht, Isabel mit einer läufigen Hündin gleichzusetzen, die nach Larry lechzt.

Dieser kann die universelle Wahrheit nicht finden, denn es gibt so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. „Denn die Männer und Frauen sind nicht nur sie selbst, sie sind auch die Gegend, in der sie geboren wurden, die Stadtwohnung oder der Bauernhof, wo sie gehen lernten, die Spiele, die sie als Kinder spielten, die Altweibergeschichten, die sie zufällig hörten, die Speisen, die sie aßen, die Schulen, die sie besuchten, der Sport, den sie trieben, die Dichter, die sie lasen, der Gott, an den sie glaubten.“

Glaubensbekenntnis aller Reisenden zu sich selbst

Man möchte Maughams Formulierungen aufbewahren und für die Ewigkeit konservieren. Nicht zuletzt wegen seines stilistischen Kunstgriffs, sich in der Erzählung neu zu erfinden und in die Handlung verwoben zu sein, ist „Auf Messers Schneide“ ein (be)merkenswerter Roman, den man immer wieder lesen kann. Die Geschichte von Larrys Odyssee zu sich selbst hat die Jahrzehnte überdauert, ohne Staub anzusetzen, und nichts an Spannung verloren. Ein Stück Weltliteratur?, das man getrost als Pionierroman einer Aussteigerbewegung bezeichnen kann, die übersättigt ist von Konsum und Genusssucht. Das Credo einer Verweigerungsmentalität und ein Glaubensbekenntnis aller Reisenden, die sich selbst auf der Spur sind. Für alle Pilger, die es wagen wollen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um eines Tages die Schneide eines Messers zu überschreiten.

Literaturangaben

  • MAUGHAM, WILLIAM SOMERSET: Auf Messers Schneide. Aus dem Englischen von N.O. Scarpi., Diogenes Verlag, Zürich 2005. ISBN: 978-3257200881. 351 S. 11,90 €.

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