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Dilthey, Wilhelm

Wilhelm Dilthey zur Zeit seiner Verlobung - (c) gemeinfrei

Wilhelm Dilthey (geb. 19. Nov. 1833 in Biebrich; gest. 3. Okt. 1911 in Seis am Schlern) war ein deutscher Philosoph und Mitbegründer der geschichtlichen Lebensphilosophie. Die Geisteswissenschaften - und damit auch die Literaturwissenschaft - hat er im Gegenüber zu den seinerzeit rasch voranschreitenden Naturwissenschaften methodisch auf eine neue Grundlage gestellt.

Foto: www.zeno.org

Leben und Schreiben

Wie viele Dichter und Denker des 18. und 19. Jh. war auch Wilhelm Dilthey ein Pfarrerssohn - allerdings stammte er nicht aus einem lutherischen Pfarrhaus, sondern aus einem reformierten. Geboren 1833 im rheinischen Biebrich (heute zu Wiesbaden), studierte er unter anderem Geschichte, Philosophie und Theologie. Nach dem ersten theologischen Examen und der staatlichen Schulamtsprüfung arbeitete er zunächst als Lehrer, zog sich jedoch 1857 aus dem Schuldienst zurück, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. Mit einer Dissertation über die Ethik Friedrich Schleiermachers? wurde er 1864 promoviert. Noch im selben Jahr habilitierte er sich mit einer Abhandlung über das „moralische Bewusstsein“. Er lehrte als Professor in Basel, Kiel, Breslau und von 1883 bis 1908 in Berlin.

Dilthey war ungeheuer produktiv. Bei seinem Tod im Jahr 1911 in Seis am Schlern hinterließ er eine umfangreiches Werk?: Die derzeit erscheinende Ausgabe? seiner Gesammelten Werke ist auf 26 Bände? plus Ergänzungsbände angelegt.

Diltheys Ideen in Grundzügen

Historischer Relativismus als Ausgangssituation

Diltheys Zeit war geprägt von der Vorrangstellung der Naturwissenschaften. Der Positivismus, eine philosophische Richtung, welche die Erkenntnisfähigkeit auf das beschränkt, was durch die Sinne erfahrbar und letztlich messbar ist, hatte seinen Siegeszug angetreten. Mit ihrem Anspruch des Analysierens stellten die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften, z. B. die Geschichtsschreibung?, in Frage: Hegel? etwa konnte hinter den Einzelereignissen der Weltgeschichte noch ein höheres Ganzes sehen, den Weltgeist, der sich im Lauf der Geschichte stufenweise verwirklicht.

Wilhelm Dilthey war das zu seiner Zeit schon nicht mehr möglich. Die Historie löste sich ihm in lauter geschichtlich bedingte Einzelerscheinungen auf (historischer Relativismus). Entsprechend war das Menschenbild jener Zeit: In der Psychologie herrschte das Elemente-Denken vor. Sinneserlebnisse wurden in kleinste Einheiten (Elemente) zerlegt, die Bewusstseinsinhalte wurden auf diese Elemente zurückgeführt, komplexere Prozesse erklärt man durch eine assoziative Verknüpfung der kleineren Einheiten.

Lebensphilosophie und Prozessdenken

Dilthey nun setzte dieser zergliedernden Betrachtung von Mensch und Geschichte einen neuen Standpunkt entgegen, indem er zur Einheit des Ganzen zurückfand. Dies geschah in der so genannten Lebensphilosophie, deren wichtigster deutscher Vertreter er wurde (für Frankreich war dies Henri Bergson?). Die Lebensphilosophie versuchte, das unablässige Werden und Vergehen in Natur und Geschichte als Bewegung des Lebens selbst zu erkennen und zu würdigen. Das Leben als Prozess ist für sie mehr als bloß die Summe seiner Einzelerscheinungen.

Diese Sichtweise führte im Grenzbereich zur Biologie zum so genannten Vitalismus mit seiner Annahme einer zielgerichteten natürlichen Lebenskraft. In der Psychologie sollte sie später die Gestalttheorie beeinflussen. Doch zunächst brachte sie durch die Arbeit Diltheys einen Gegenentwurf zur zeitgenössischen, naturwissenschaftlich orientierten Assoziationspsychologie hervor.

Wilhelm Dilthey stellte nämlich fest, dass eine rein elementarisierende Betrachtungsweise das Eigentümliche der menschlichen Seele verkennt. Diese ist für ihn eine komplexe Struktur, bestehend aus dem Willen, aus Gefühls- und Triebleben und aus der Intelligenz. Der Mensch ist ein Lebewesen, das will, fühlt und sich etwas vorstellt. Dieser Strukturzusammenhang bewirkt, dass psychische Prozesse immer auch Sinn- und Wertaspekte beinhalten.

Psychisches Leben steht deshalb nicht einfach reproduzierbar und messbar zur Verfügung. Stattdessen lässt es sich aus seinem vielfältigen Ausdruck – aus Aussagen, Handlungen und der Äußerung unmittelbarer Erlebnisse – erschließen. Es kann nicht – nach den Regeln der Naturwissenschaften – erklärend in isolierte Wahrnehmungselemente zerlegt, sondern muss als Ganzes verstanden werden: Dilthey forderte statt der „erklärenden“ eine „verstehende“, eine geisteswissenschaftliche Psychologie, die sich um Wesenserkenntnis bemüht. Daneben etablierte er eine vergleichende Forschung, die eine überindividuelle Typenlehre herausarbeitet.

Verstehen statt Erklären

Dieses Menschenbild blieb in seiner Wirkung nicht auf die Psychologie begrenzt. Es hatte Folgen auch für die Geisteswissenschaften (zu denen die Psychologie damals formal übrigens noch gehörte). Nach Dilthey schreitet im Erleben, im schöpferischen Ausdruck des Erlebens und im Verstehen dieses Ausdrucks das Leben ebenso fort wie der einzelne Mensch mit seiner Biographie und seinem Selbstverständnis.

Nach demselben Prinzip entwickeln sich nun auch die Geisteswissenschaften? weiter – sie sind ebenfalls Teil dieses Lebensprozesses. Die geistige Welt besteht aus Erzeugnissen des menschlichen Geistes – sie ist folglich mit dem Geist verwandt, der sie zu verstehen sucht. Im verstehenden Blick auf sich selbst blickt der Mensch, blickt der menschliche Geist, auf sein eigenes Werden zurück, und diesem Verstehen verleiht er schöpferisch eine wiederum neue Gestalt und immer so fort.

Es liegt auf der Hand, dass die Historie, die auf diese Weise als in den Lebensprozess eingebetteter Verstehensprozess angesehen wird, nicht mehr in geschichtlich bedingte Einzelereignisse zergliedert werden kann, wie das der historische Relativismus tat. Dilthey hat seinen Ansatz deshalb auch, in Anlehnung an Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der historischen Vernunft“ genannt. Indem er auf der Prozesshaftigkeit bestand, hat er aber ebenso jeder Metaphysik und damit jedem unbegründeten Anspruch auf absolute Wahrheit – er nannte so etwas „Spinneweben dogmatischen Denkens“ – in den Geisteswissenschaften den Riegel vorgeschoben.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Indem er das Verstehen zu dem ihnen eigenen Verfahren erhob, hat Wilhelm Dilthey den Geisteswissenschaften eine eigene methodische Grundlage erschlossen und ihnen zu neuem Selbstverständnis und zur Selbstständigkeit gegenüber den Naturwissenschaften verholfen.

Bedeutung für die Literaturwissenschaft

Diltheys Gedanken wurden zuerst in der literaturgeschichtlichen Forschung rezipiert. Innerhalb seines Gesamtwerks handeln die Bände 25 („Dichter als Seher der Menschheit“) und 26 („Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin“) von der Literatur. „Das Erlebnis und die Dichtung“ erschien zuerst (1906 und stieß im deutschsprachigen? Raum auf starke Resonanz - nicht nur bei Experten, sondern auch bei literaturinteressierten Laien.

Große Dichtung entsteht für Dilthey aus dem Erleben. In ihr komme nicht „ein Erkennen der Wirklichkeit, sondern die lebendigste Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens zum Ausdruck“. Entsprechend kann sie auch nicht zergliedernd erklärt, sondern nur verstehend, in einer „Bewegung von Leben zu Leben“, begriffen werden.

Diese literaturwissenschaftliche Erlebnistheorie vereinigte philosophische, psychologische, historische und theologische Ansätze und führte zur Gründung einer einflussreichen geistesgeschichtlichen Schule, zu deren wichtigsten Vertretern u. a. Paul Kluckhohn?, Friedrich Gundolf? und Oskar Walzel? gehörten. Als mustergültig gelten ihre Forschungen zur Literatur der Romantik, des Barock? und der Goethezeit?.

Jedoch hat der Erlebnisbegriff auch seine Grenzen. Darauf hat Walter Benjamin? hingewiesen. So lässt sich etwa der Expressionismus nicht allein mit dem Begriff der Erlebnisdichtung deuten.

Weitere Wirkung

Diltheys Lehre vom deutenden Verstehen aus dem Gesamtzusammenhang heraus (Hermeneutik?) hat sodann, nachdem ihre Bedeutung als eigener philosophischer Ansatz erkannt war, auch die Philosophie befruchtet bis hin zu Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer?.

Auf dem Gebiet der Psychologie hat Diltheys Schüler Eduard Spranger? den typologischen Ansatz weiter ausgearbeitet, etwa in seinen 1914 erschienenen „Lebensformen“. Auch der Psychiater und spätere Existenzphilosoph Karl Jaspers? baut in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) auf Dilthey auf.

Werke

  • Bücher von Wilhelm Dilthey bei Jokers
  • Wilhelm Diltheys „Gesammelte Schriften“ sind erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006 ff.
    • 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte
    • 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation
    • 3: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter. Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung. Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt
    • 4: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus
    • 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften
    • 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlung zur Poetik, Ethik und Pädagogik
    • 7: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
    • 8: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie
    • 9: Pädagogik. Geschichte und Grundlinien des Systems
    • 10: System der Ethik
    • 11: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins
    • 12: Zur preussischen Geschichte. Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit. Die Reorganisation des preussischen Staates. Das allgemeine Landrecht
    • 13: Leben Schleiermachers. Erster Band
    • 14: Leben Schleiermachers. Zweiter Band
    • 15: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert
    • 16: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859–1874
    • 17: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus »Westermanns Monatsheften«: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen 1867–1884
    • 18: Die Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865-1880)
    • 19: Grundlegung der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895)
    • 20: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903)
    • 21: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Erster Teil: Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1875–1894)
    • 22: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Zweiter Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1860–1895)
    • 23: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Vorlesungen 1900–1905
    • 24: Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre (ca. 1904–1911)
    • 25: Dichter als Seher der Menschheit. Die geplante Sammlung literarhistorischer Aufsätze von 1895
    • 26: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin
    • Erg. Bd. 001: Briefwechsel. Band I: 1852–1882

Sekundärliteratur

  • Jung, Matthias: Dilthey zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1996, ISBN: 978-3885069232
  • Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Dilthey. Eine Einführung. UTB, Stuttgart 2011, ISBN: 978-3825234867

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