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Ein verborgenes Leben

von<br> Sebastian Barry

Buchcover der Taschenbuch-Ausgabe - (c) dtv

„Die heimliche Schrift“ (The Secret Scripture), wie der Roman im englischen Original wesentlich treffender heißt, ist das ineinander verwobene Werk? zweier Erzählstimmen. Eine davon gehört zu Roseanne, der hundertjährigen Insassin einer geschlossenen Anstalt in Irland, die andere Stimme ist die ihres Psychiaters, Dr. Grene.

Der Psychiater beginnt seine Aufzeichnungen, als er von den Behörden beauftragt wird, im Rahmen einer Umbettung und einer geänderten Gesetzgebung die psychische Verfassung aller seiner Patienten neu zu begutachten und sie gegebenenfalls zu entlassen. Dies betrifft auch die stille, rätselhafte Greisin Roseanne, an der er in ihrem hohen Alter noch Spuren einer einstmals großen Schönheit wahrnimmt. Aus der Ferne hat er schon immer Bewunderung, sogar Verehrung für sie empfunden, obwohl er in den ganzen dreißig Jahre, die er jetzt in der Anstalt arbeitet, sich bisher kein einziges Mal mit ihr auch nur unterhalten hat.

Roseanne und ihr Nervenarzt führen eigenartig oberflächliche Unterhaltungen, doch neben diesen Gesprächen entsteht, wie beider Aufzeichnungen verraten, trotz des Misstrauens, das die Patientin gegenüber der Amtsautorität des Arztes hegt, eine Zugewandtheit jenseits der gesprochenen Sätze. Der Doktor ist kein formidabler Gott in Weiß; persönliche Leiderfahrung hat ihn für das Schicksal seiner Patienten geöffnet. Darüber hinaus ist er mit einem sanften und trockenen Humor gesegnet, der in seine Sicht der Dinge mit einfließt. Doch Roseanne gibt die Geschichte ihres Lebens nicht preis; der Arzt kommt zu keinem Urteil über ihren geistigen Zustand. Hat sie damals in Sligo nun ein Kind geboren und es dann umgebracht, wie der Pfarrer in seinem Gutachten behauptet? Er stellt eigene Erkundungen an, wird am Ende tiefer als er gedacht hatte, in die heimliche Geschichte seiner Patientin hineingezogen.

Roseanne ihrerseits schreibt ihre Reflexionen und Erinnerungen auf „überschüssigem“ Papier, das sie in einer Abstellkammer gefunden hat; die Texte versteckt sie unter einem losen Dielenbrett ihres Zimmers. Die Heimlichkeit ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Tuns. „Meine Geheimnisse sind mein Glück und mein Heil“, vertraut sie dem Leser an. Ihre Erinnerungen führen ins Irland der zwanziger und dreißiger Jahre, die Zeit ihrer Kindheit und Jugend, die sie in Sligo verbrachte, einer kleinen Stadt am Rande des Atlantiks, und enden 1945, als Pfarrer Gaunt sie in die Nervenheilanstalt einweisen lässt.

Roseannes Erzählstimme spricht in einer unglaublich schönen, pulsierenden, bilderreichen Sprache (hervorragend übersetzt von Hans-Christian Oeser?), die zupackt und unmittelbar ergreift. Sie verrät eine staunende Freude am Leben und einen zärtlicher Humor, mit dem Roseanne auf ihr jüngeres Selbst und dessen Lebensumstände zurückschaut. Doch immer wieder unterbricht sie den Erzählfluss, um ihr Gedächtnis zu überprüfen, zuweilen verliert sich die Stimme in Mutmaßungen oder Ausflüchten, ein Zeichen dafür, dass die Beschwörung der Vergangenheit für die Greisin in ihrem kleinen Anstaltszimmer allzu schmerzlich wird. Alle bitteren Momente ihres Lebens sind mit dem Pfarrer verbunden. „Wenn man ihm in die Quere kam, war ein so kleiner, reiner Mann wie ein Sensenblatt; Gras, Dornengestrüpp und die Halme menschlicher Natur mähte er einfach nieder ...“

Doch Roseanne hält an ihrem Schreiben fest. Sie hat „alle ihre Peiniger“ überlebt und nimmt jetzt die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte an sich. Sie löst sich von den Scham- und Schuldgefühlen, die die Gesellschaft von denen fordert, die sie selbst gedemütigt und zurückgewiesen hat, und berichtet in kraftvollen, tief bewegenden Sätzen, was sie erlitten hat, was ihr angetan wurde. So wird sie zur Gestalterin ihrer eigenen Geschichte und kann am Ende schreiben: „Das Geschenk des Lebens ist zu guter Letzt etwas Unermessliches. Etwas weit Mächtigeres als die alten Berge von Sligo, etwas Schwieriges zwar, aber doch etwas seltsam Helles ...“

Für den Leser könnte die Thematik des Buches schwere Kost sein - wer tut sich, als Nicht-Betroffener, schon gerne Texte an, die von Gewalt- und Missbrauchsüberlebenden zur Bewältigung ihres Traumas verfasst worden sind. Doch mit solch einem Text hat der Roman nichts zu tun. Roseanne ist kein Opfer. Ihre Stimme im Roman ist vital, poetisch, kraftvoll, sogar verführerisch. Selbst als hundertjährige Anstaltsinsassin vermag sie es, den Leser in ihre Welt hineinzuziehen.

Der Autor des Romans, Sebastian Barry (geboren 1955), schreibt Prosa, Lyrik, Dramen. Außer dem vorliegenden Roman ist lediglich ein zweiter, „Die Zeitläufte des Eneas McNulty“ (1999), ins Deutsche übertragen worden. Vielen seiner Werke? liegen Geschichten aus seiner eigenen Familie zugrunde. So hat er „Ein verborgenes Leben“ zum Angedenken an eine seiner Großtanten geschrieben, die ein ähnliches Schicksal wie Roseanne erlitten hat. In jungen Jahren verschwand sie in der Nervenheilanstalt von Sligo; weder ihr Name noch andere Spuren ihrer Existenz wurden überliefert - nur an das Gerücht, dass sie sehr schön gewesen sein soll, daran konnten sich einige in der Familie noch erinnern.

Barrys Romane und Dramen erzählen von Individuen, doch oft ist deren Schicksal mit den umfassenderen irischen Belangen verstrickt. Die schwierige und wilde Geschichte des Landes wird auch im vorliegenden Roman thematisiert - die blutigen Auseinandersetzungen mit England um die nationale Unabhängigkeit, die Schrecken des anschließenden Bürgerkriegs, der bis in die jüngste Zeit immer wieder aufflammende Streit, wer in längst vergangenen Kriegen auf der falschen Seite stand - als ob das alles gestern stattgefunden hätte. „Irisches Liebesgeflüster“ wird diese Eigenart der irischen Mentalität an einer Stelle im Roman genannt. Für Kontinentaleuropäer ist das schwierig nachzuvollziehen, deshalb gibt es am Ende des Buches eine Zeittafel zur irischen Geschichte.

Es ist jedoch für ein Verständnis des Romans nicht nötig, sich in die historischen Verwicklungen einzuarbeiten. Den distanzierten Blick auf die bewegte Vergangenheit des Landes mag der deutsche Leser mit Dr. Grene teilen, der zwar Ire, aber in England aufgewachsen ist. Der Arzt selbst zweifelt die Möglichkeit geschichtlicher Wahrheitsfindung zunehmend an, denn Roseannes Berichte der Ereignisse und die Versionen des Pfarrers in seinem Einweisungsgutachten widersprechen einander auf mehreren Ebenen. Und dann muss er an einer Stelle auch noch erkennen, dass seine eigene Erinnerung an des Pfarrers Text fehlerhaft ist. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass alles Erinnerte unzuverlässig ist, „dass wir unsere Heimatliebe auf Papierwelten aus Irrtümern und Unwahrheiten aufbauen“. Am Ende bleibt als Essenz von Geschichtsschreibung der Nutzen, den Roseanne aus ihrer heimlichen Niederschrift zieht: „Dass sie sich selbst geholfen, mit sich selbst gesprochen, sich selbst zugehört hat. Das ist ein Sieg.“

Der Roman ist auch ein Sieg der vergessenen Großtante Barrys über das Totgeschwiegen-Sein; er erhielt 2008 den Costa Book Award? und wurde 2009 Roman des Jahres in Irland.

Autorin: Angela Hofbauer

Literaturangaben

  • Barry, Sebastian: Ein verborgenes Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2009, ISBN: 978-3-86521-967-1. Taschenbuch-Ausgabe: dtv, München 2011, ISBN: 978-3423139946
Sekundärliteratur zum Thema
  • Smith, James M.: Ireland’s Magdalen Laundries and the Nation’s Architecture of containment. Manchester University Press, Manchester 2008, ISBN 978-0-7190-7888-0

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