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Frühes Dokument der kulturellen Krise

1902 veröffentlichte Hugo von Hofmannsthal? in der Berliner Tagespresse den fiktiven Brief? von Lord Philipp Chandos an Francis Bacon?, in dem er die Leere hinter den Worten als Folge der Vertreibung aus dem Paradies des Sprachvertrauens schildert und das Schweigen als einzig möglichen Ausweg suggeriert. Seitdem war dieses Schweigen oder zumindest eine dem Schweigen nahe kommende Reduktion das zentrale Leitbild der Moderne. Ein knappes Jahrhundert später ist die Moderne nicht mehr ganz so modern, wie sie einmal war. Von einigen ihrer Prinzipien mussten und müssen wir uns verabschieden. Es erweist sich, dass die moderne Literaturförderung? ein Unternehmen von abgrundtiefer Dialektik ist und der Literatur ebenso sehr schaden kann, wie sie ihr zu nutzen meint. So hat das rein formale Verhältnis zur Literatur zur Folge, dass der Literaturbegriff immer wieder allzu eng an die Kunst, also an die Sphäre der freien Selbstentäußerung des bürgerlichen Subjekts gebunden ist. Es entsteht durch die enge Bindung des Literaturbegriffs ein Konzept des Verantwortungslosen, Verschwenderischen, der subjektiven Selbstentäußerung, das verhindert, dass ganze Bereiche der Literaturproduktion überhaupt noch als solche erkennbar sind. Würde man statt dessen mit einem Kulturbegriff arbeiten, so wie er noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert, also etwa bei Georg Simmel?, Siegfried Kracauer? oder Walter Benjamin?, Gemeingut war, wäre es völlig selbstverständlich, in den Visionen der Wirtschaftsführer die vulgär gewordene Lebensphilosophie, das vitalistische Gerede von Wesen und Wille, von Herausforderung, Kraft und Durchbruch, kurz: ganz gewöhnliches gesunkenes Kulturgut zu erkennen.

Langeweile ist keine bestimmbare Eigenschaft bestimmter Gegenstände, sondern beschreibt lediglich unser Verhältnis zu ihnen. Wer sich langweilt, erfährt einen Mangel oder Überschuss des Sinns und erhält damit die Gelegenheit, auf "dumme Gedanken" zu kommen - das heißt, auf vermeintlich sinn-lose, un-sinnige Gedanken, die sich der Ökonomie von Frage und Antwort, von Angebot und Nachfrage entziehen und so zur Ankündigung eines anderen, zukünftigen Sinns werden. In seiner Büchnerpreis-Rede hat Wilhelm Genazino sich 2004 unter anderem an "Chefredakteure, Programmleiter, Fernsehdirektoren, Eventdenker, Kaufhauschefs" gewandt (und davon könnten sich auch Intendanten, Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler etc. angesprochen fühlen):

"Lasst die Finger weg von unserer Langeweile! Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert in die Welt schauen dürfen! Hört auf, uns mit euch bekannt zu machen! Hört auf, euch für uns etwas auszudenken! Sagt uns nicht länger, was wir wollen!"

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