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Grasblätter

von<br> Walt Whitman
Neu übersetzt von Jürgen Brôcan

Grasblätter, Buchcover - (c) Carl Hanser Verlag

Der Schriftsteller Walt Whitman? (1819-1892) gilt als Begründer der modernen? amerikanischen Dichtung. Ohne sein Lebenswerk? „Grasblätter“ wäre T.S. Eliots? Langgedicht? „Das öde Land“ wohl kaum denkbar. Seine freien Verse haben die amerikanische Literatur geprägt wie kein zweites dichterisches Werk. Aber auch auf den europäischen Expressionismus hat Whitmans Lyrik einen wesentlichen Einfluss gehabt. Nicht umsonst wird Whitman als der amerikanische Homer und Dante? verehrt.

Politisch war er ein leidenschaftlicher Verfechter der amerikanischen Demokratie. Auch deshalb widmete er dem amerikanischen Urdemokraten Präsident Abraham Lincoln nach dessen Ermordung 1865 sein Gedicht „O Käpt’n! mein Käpt’n“, das er mit den Versen beschließt: „Vor Anker sicher liegt das Schiff, gelungen ist, zu Ende unsre Reise, / Nach schlimmer Fahrt läuft ein der Sieger mit erstrittnem Preise; / Ihr Ufer jubelt, klingt, ihr Glocken! / Doch ich in Schmerz und Not, / Ich bin an Deck, da liegt mein Käpt’n, / Gefallen, kalt und tot.“ Nach dem Ende des blutigen Bürgerkriegs, der der Sklaverei ein Ende machte, traf Whitman mit diesen Zeilen? die Befindlichkeit eines Großteils der Amerikaner. Dies war jedoch eine Ausnahme, denn „O Käpt’n! mein Käpt’n“ blieb Whitmans einziges zu Lebzeiten populäres Gedicht.

Whitman war die utopische Programmatik seiner Dichtung bewusst. Aus weltlicher und geschäftlicher Sicht seien die „Grasblätter“ schlimmer als ein Fehlschlag gewesen, schreibt er kurz vor seinem Tod, doch „über ihren Wert wird die Zeit urteilen“. Der geringe Bekanntheitsgrad seines Werks rührte vielleicht auch daher, dass seine Dichtung spirituell beeinflusst und nicht auf Versmaße? aus war, sondern ihr Ziel und Funktion in der Erzählung von Geschichten ihrer Zeit besaß.

Angelehnt an die italienische Oper und die anglikanische Bibel legte Whitman seiner Literatur den unverstellten menschlichen Redefluss zugrunde. Auch konnte er sich mit seiner pragmatischen Gegenwartslyrik nicht durchsetzen. Zwar gelang es ihm, die Lyrik als Literatur der Salons und Universitäten auf die Straße und in die Fabriken zu tragen, doch haben absurderweise gerade die außerordentliche Nähe seiner Verse zum Alltäglichen und ihre Hinwendung zu den aktuellen politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen neben dem Fehlen von Rhythmus? und Metrik dazu geführt, dass er zu Lebzeiten weitgehend unverstanden blieb.

Whitman wurde 1819 als zweites von acht lebenden Kindern geboren. Bereits im Alter von elf Jahren verließ er die Schule, um schon bald eine Ausbildung in einer Druckerei? aufzunehmen. Dort eignete er sich journalistische Grundkenntnisse an und begann, Dramen von Shakespeare, Homer und Dante? zu lesen. Ab 1839 schrieb er regelmäßig für verschiedene Zeitungen. In den 1850er Jahren begann Whitman mit der Arbeit an den „Grasblättern“, seiner „endgültigen Visitenkarte für die kommenden Generationen der Neuen Welt“. Whitman schrieb und editierte bis an sein Lebensende an diesem Gedichte-Konvolut, mit dem Ziel, keine Facette Amerikas zu vergessen. Dies führt zu zahlreichen, katalogischen Aufzählungen, die sich über mehrere Seiten hinziehen und deren Lektüre durchaus auch Anstrengung verursacht.

Mit unstillbarer Leidenschaft schrieb Whitman über die amerikanischen Verhältnisse, ohne dabei die historischen Wurzeln und künftigen Chancen aus dem Blick zu verlieren. Er schrieb über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen Amerikas, über Flora und Fauna sowie die vielversprechenden Rohstoffe Amerikas („Aufbruch von Paumanok“). Whitman dichtet über die freundschaftlichen und sexuellen Verhältnisse zwischen Männern und Frauen, widmete sich aber auch der besonderen Freundschaft unter Männern, was zahlreiche Interpreten seines Werks dazu veranlasste, ihm Homosexualität nachzusagen. Die größten Kontroversen und seine schriftstellerische Isolation lösten jedoch die Verse aus, die unter der Überschrift „Kinder Adams“ versammelt sind. Darin feiert Whitman die Perfektion des menschlichen Körpers in teils hocherotischen? Worten. Diese Verse wurden als Pornographie? ausgelegt und führten in einigen Regionen Amerikas zum Verbot seiner „Grasblätter“.

Whitman erfasste in seinen Versen vor allem die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände der USA aus ihrer Historie heraus. „Es schien mir (…), dass die Zeit gekommen ist, um über alle alten und neuen Themen und Dinge im Lichte der Ankunft Amerikas und der Demokratie nachzudenken.“ Näherte sich Alexis de Tocqueville den Vereinigten Staaten mit seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ soziologisch an, vollführte Whitman seine historische Analyse des amerikanischen Staats- und Bürgerwesens auf lyrische Art und Weise.

Auf dem Höhepunkt seines Schaffens befand sich Whitman während der Sezessionskämpfe in den 1860er Jahren. Seine persönlichen Erlebnisse führten zu einer von allen Beschränkungen befreiten Dichtung von seltener Intensität und Strahlkraft. Die unter „Trommelschläge“ sowie „Erinnerung an Präsident Lincoln“ versammelten Verse gehören zu den ausdrucksstärksten und eindringlichsten lyrischen Zeilen der Weltliteratur. Sie entführen zunächst zu den Aufmärschen und Militärparaden zu Beginn des Sezessionskrieges und berichten später von den Schlachtfeldern und überfüllten Lazaretten am Ende des Krieges. Sind seine Zeilen anfangs vom Enthusiasmus auf beiden Seiten geprägt, herrscht am Ende Lethargie und Kriegsmüdigkeit vor. Hier schreibt Whitman eine Geschichte der USA, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt.

Zugleich schuf diese Katastrophe aber auch die Grundlagen für den Aufstieg einer neuen und selbstbewussten Nation. Er arbeitete auch immer wieder an seinen „Grasblättern“, bis er 1873 einen Schlaganfall erlitt und nur noch stark eingeschränkt arbeitsfähig war. 1892 starb Whitman und hinterließ ein Werk, das erst nach seinem Tod entdeckt wurde und seine ganze Kraft entfalten konnte.

Jürgen Brôcans? beeindruckender editorischer? Leistung ist es zu verdanken, dass sämtliche Gedichte Whitmans nun erstmals in ihrem Kontext – versehen mit zahlreichen Interpretationshilfen und Hintergrundinformationen – zu lesen sind. Außerdem ist es Brôcans übersetzerisches Verdienst, dass wir diesen großen Dichter Amerikas, der den Aufbruch seiner Nation aufmerksam begleitet und in Versform gebannt hat, nun wiederentdecken und heute noch einmal der Geburt einer Nation beiwohnen können, die der Welt durch sein Werk noch einmal ein selbstbewusstes „Salut au Monde“ entgegen ruft.

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

  • Whitman, Walt: Grasblätter. Nach der Ausgabe von 1891-92 erstmals vollständig übertragen und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Carl Hanser Verlag, München 2009. 860 S., 39,90 €, ISBN: 978-3446234109

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