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Heartland

von<br> Joey Goebel

Wer kennt sie nicht, die einflussreichen US-amerikanischen Unternehmerdynastien der Fernsehserien der 1980er Jahre? Die im Ölgeschäft reich gewordenen Ewings aus der Serie „Dallas“ oder die Carringtons aus „Der Denver-Clan“. Oder auch die Channings aus „Falcon Crest“, die mit dem Weinbau in Kalifornien ein Vermögen gemacht haben. Diese Serien begeisterten nicht nur in den Vereinigten Staaten ein Millionenpublikum, auch in Deutschland zogen sie Woche für Woche die Massen vor den Fernseher. Allerdings faszinierten die Serien nicht nur weil intrigiert, gemordet, geliebt oder gelogen wurde, sondern weil die Reichen in ihrem Verhalten nicht viel besser waren als gewöhnliche Menschen.

Seifenopernhaft beschreibt der amerikanische Autor Joey Goebel, Jahrgang 1980, in seinem neuen Roman „Heartland“, der im Zürcher Diogenes Verlag? erschienen ist, nun die Unternehmerdynastie Mapother. Bereits 2005 veröffentlichte ebenfalls der Diogenes Verlag? Goebels gefeierten Bestseller „Vincent“, eine Satire auf die Massenkultur, und ein Jahr später seinen erfolgreichen Erstling? „Freaks“, in dem fünf Außenseiter zusammenkommen und eine Band gründen.

Flohmarkt-Leben

Auch in seinem neuen Werk liegt der Fokus auf einem Außenseiter: Eugene Dewitt Mapother, genannt Blue Gene. Er lebt in der fiktiven Kleinstadt Bashford „irgendwo mitten in Amerika“, wie es gleich zu Anfang des Romans heißt. Blue Gene ist 26 Jahr alt, verkauft Sachen aus Kindertagen auf einem Flohmarkt, war zuvor Wal-Mart-Mitarbeiter und wohnt in einem Trailer. Er trägt eine Vokuhila-Frisur und einen Schnauzbart. In diesem beschaulichen Flohmarkt-Leben von Blue Gene passiert nichts Außergewöhnliches, bis seine Familie ihn eines Tages bittet, am Wahlkampf seines (vermeintlichen) Bruders teilzunehmen, der ins Repräsentantenhaus einziehen soll. Vier Jahre hatte Funkstille zwischen Blue Gene und seiner Familie geherrscht, da sie nicht akzeptiert hatte, dass er mit einer drogensüchtigen, aus der Unterschicht stammenden Frau zusammenlebt. Nun bittet man ihn, die gewöhnlichen Bürger zu ermuntern, seinen älteren Bruder John Hurstbourne Mapother zu wählen. Die Familie hofft, dank des Außenseiters Blue Gene, beim Wahlvolk an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Die Mapothers sind die reichste Familie im ganzen Bundesstaat, ihr Vermögen beruht auf einem Tabakimperium, das der größte Arbeitgeber des Wahlkreises ist. Nach anfänglichem Zögern wirbt Blue Gene schließlich für seinen Bruder: bei einer Monstertruck-Show, beim Wrestling, auf der grünen Wiese vor einem Wal-Mart-Supercenter.

Doch wie in jeder guten Seifenoper, verbergen sich Leichen im Keller, die plötzlich zum Vorschein kommen – so absurd die Umstände auch sein mögen. Blue Gene erfährt also, dass sein Bruder in Wahrheit sein Vater ist. Seine wahre Mutter, die bei seiner Geburt starb, war ein 12-jähriges Stubenmädchen, das damals der ebenso alte John geschwängert hatte. Und das Kindermädchen von Blue Gene in Wirklichkeit seine Großmutter ist. Lüge, Verrat, Missgunst. Freilich darf auch eine nichterfüllte Liebesgeschichte nicht fehlen! Blue Gene verliebt sich in die Bandleaderin der Punkrockband „Uncle Sam’s Finger“, Jackie Stepchild, die gegen die miefige Moralvorstellung der Kleinstadt wettert. Doch damit immer noch nicht genug. Zu lesen sind noch ungefähr ein Drittel des Romans, bis der Leser zum Showdown gelangt: dem Wahltag.

Alltag einer Kleinstadt

Als Blue Gene erfährt, dass er sein Leben lang belogen worden ist, steigt er aus dem Wahlkampf aus und verlangt von seinem Adoptivvater die Ausbezahlung seines Erbanteiles von 400 Millionen Dollar. Dafür verpflichtet er sich, niemandem zu verraten, dass er der Sohn seines vermeintlichen Bruders John ist. Da die Band „Uncle Sam’s Finger“ keine coole Location hat um aufzutreten und Blue Gene in Jackie verliebt ist, kauft er das ehemalige Wal-Mart-Center am Highway 81 und macht daraus ein Commonwealth-Center. Zunächst als Ort gedacht, wo viele Bands auftreten sollen, entwickelt es sich immer mehr zu einem Begegnungszentrum, wo man nicht nur kostenlos Mahlzeiten oder einen Schlafplatz finden, sondern auch künstlerisch tätig sein kann. So gibt es Theateraufführungen, Straßenmusikanten spielen und Filme werden gezeigt. Für jede Tätigkeit zahlt Blue Gene mehr als den Mindestlohn. Als Blue Gene Ärzte einstellen will, um kostenlos Patienten zu behandeln, greift allerdings Patriarch Henry Mapother ein und lässt das Center kurzerhand schließen. Denn das Center schadete Johns Wahlkampf: dessen Kontrahent hatte die ganze Sache als „unamerikanisch“ gebrandmarkt und so in den Umfragen an Boden gegenüber John gutgemacht.

Blue Gene beugt sich seinem Adoptivvater aber nicht. Gemeinsam mit Jackie gründet er die „Partei der Habenichtse“. Kandidatin wird Jackie, die sich zu Halloween ein Rededuell mit John liefert. Der jedoch erleidet einen Nervenzusammenbruch. Aus Schmach erteilt John seinem Fahrer den Auftrag, Jackie zu ermorden. Als der Fahrer von Johns Anwesen fährt, trifft er mit seinem Wagen jedoch Johns fünfjährigen Sohn, der in den darauffolgenden Tagen – und somit auch am Wahltag – im Koma liegt.

Doch was wären Seifenopern ohne ein tränenrührendes Happyend? In der Klinik erfährt John, dass er gewonnen hat. Sein Sohn erwacht aus dem Koma, als John und Blue Gene miteinander Frieden geschlossen und sich geschworen haben, sich niemals wieder zu belügen. Ach, wie herzig: Die Familie Mapother wieder vereint. Zu würdigen ist, dass Joey Goebel in seinem Roman aufzeigt, wie die politischen Eliten der USA, die meist wohlhabenden Familien- bzw. Unternehmerdynastien entstammen, die Unterschicht ausnutzen, um ihre persönlichen Interessen durchzusetzen. Er zeigt die Bigotterie des angehenden Kongressmannes, der öffentlich von Wahrheit spricht, während sein Familienleben selbst auf Lebenslügen aufbaut. Gelungen ist zudem, wie in „Heartland“ – ein anderes Wort für den Mittleren Westen – der Alltag einer Kleinstadt aufgezeigt wird, einschließlich der konservativen und religiösen Moralvorstellung der meist weißen Bevölkerung, so z. B. Homophobie oder Frauenfeindlichkeit. So muss sich Blue Gene immer wieder die Frage stellen, ob er sich auch männlich genug gibt oder nicht.

Möchtegern-Persiflage

Der Roman liest sich gut und flüssig – auch dank der Übersetzung von Hans M. Herzog?. Autor Goebel verwendet viele Dialogstellen?, die die 700 Seiten? wohltuend lockern. Je nach sozialem Status der Figur bedient sich Goebel unterschiedlicher Sprachen mit all ihren Floskeln bzw. ihrem Slang. Goebels allwissender Erzähler beschreibt Situationen und Figuren sehr genau, auch was sie denken und wie sie gerne gehandelt hätten. Zudem wendet er für Situationsperspektiven filmische Mittel an – beinahe so, als ob der Roman ursprünglich ein Drehbuch gewesen wäre, bzw. die Vorlage für einen Film darstellt.

Ärgerlich jedoch, dass Goebel im letzten Drittel des Buches die Figuren und die Situationen nicht mehr im Griff hat. Nach der dramatischen Wendung der wahren Identität Blue Genes erwartet man ein baldiges Ende, doch zieht und zieht sich der Text weiter in die Länge. Einige Handlungsstränge hätten hier ruhig wegfallen oder zumindest gestrafft werden können – der Leser muss nicht ständig wissen, warum oder weshalb diese oder jene Figur sich so oder so verhalten hat. Hinzu kommt, dass Goebel offenbar eine Persiflage? auf die amerikanische Gesellschaft des Mittleren Westens schreiben wollte, die im Roman leider nicht konsequent und kohärent durchgezogen wird. Man fragt sich mitunter, was das Ganze nun darstellen soll.

Dass die amerikanischen Politiker Bigotterie betreiben, das wussten wir schon vor dem Werk von Joey Goebel. Da war man in den Vereinigten Staaten bereits vor 25 Jahren und in den eingangs genannten Fernsehserien viel weiter, was die Thematisierung sozialer Missstände in Ober- und Unterschicht, korrupter Machenschaften in der Wirtschaft und der Politik oder des Dauerreizthemas Homosexualität angeht. Die Originalfernsehserien übertrafen in ihrer Themensetzung bei Weitem diese Möchtegern-Persiflage!

Originalbeitrag unter Die Berliner Literaturkritik

Literaturangaben

  • Goebel, Joey: Heartland. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 714 S., 22,90 €, ISBN: 978-3257066944

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