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Katastrophenkunde

von<br> Jeffrey McDaniel

Es ist ein Glücksfall für die deutsche Buchlandschaft, dass der Berliner Lyriker? Ron Winkler? auf die Texte des 1967 geborenen New Yorker Autors Jeffrey McDaniel? gestoßen ist, sich von ihnen begeistern ließ und sie in hervorragend lesbarer Übersetzung für den deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht hat.

Es ist ein Glücksfall, aber kein Zufall. Jeffrey Mc Daniels? Gedichte überwältigen, sie greifen unmittelbar ins Leben ein, versprühen eine unbändige Lust an der Welt, die in ebenso wahnwitzigen wie präzisen und einleuchtenden phantastischen Bildern erkundet wird. Man kann sich ihnen nicht entziehen – höchstens verweigern.

Ein Miteinander von Gegensätzen

Wie als Programm ist im ersten Gedicht „Liebes Amerika“ die Zeile zu lesen: „Ich bin ein Narziss? gefangen in der dritten Person.“ Besser lässt sich die Sprechweise der Mc Danielschen? Texte nicht beschreiben: Ein extrem expressiver Gestus?, gesteigert zu einem halb spielerischen, halb verspielten Größenwahn, verschmilzt mit (Selbst-) Reflexion und ironischer Distanz.

Dieses Miteinander von scheinbaren Gegensätzen führt nicht etwa zu einer unentschiedenen Schwebe-Poesie, sondern zu Zeilen, die einen mit unerwarteter Wucht treffen. Und eben diese Wucht steckt auch in den unerhörten Metaphern: „Meine Augenbrauen sind / diese pelzige Stimmung in Deinem Bauch, wenn Du eine Lüge / erzählst.“ Poetische Bilder, wie man sie sich wünscht, aber wie man sie so selten findet: absolut überraschend, in Erstaunen versetzend und doch sinnlich und bereits im ersten Moment – man hatte noch gar keine Zeit, sie rational zu erklären – einleuchtend.

Am Ende jenes den deutschsprachigen Band eröffnenden Gedichtes stehen dann die Zeilen: „Mein Herz ist eine so dunkle Straße, dass selbst Nymphomaninnen / Küsse scheuen. Mein Herz, Amerika, mein Herz“. Herz – und Amerika: Jeffrey Mc Daniel? hat die seltene Gabe, konkret-politisch zu dichten, ohne in gutmenschliche Parolen zu verfallen. Das politische Gedicht ist eine am eigenen Körper empfundene Notwendigkeit. Persönlichstes und Politisches sind direkt miteinander verknüpft, ohne dass sich eines im anderen auflöst.

Liebesgedichte

So werden wir nicht zuletzt mit Liebesgedichten? von solcher Brutalität und Zärtlichkeit beschenkt, dass es einem zunächst die Sprache verschlägt und man sich dann die Frage stellt, ob diese Textgattung in der deutschen Literaturlandschaft vielleicht längst ausgestorben oder zumindest vom Aussterben bedroht ist: „meine Küsse füllten die Halle Deines Körpers / mit Rauch, und die Lügen kamen / wie eine Jahreszeit / Die meisten Betrunkenen sterben nicht // bei den Unfällen, die sie inszenieren, und ich habe eine Hand- / granate geschluckt, die nie aufhört zu explodieren“. Dies ist in der Tat „dionysisches“ Schreiben, wie es Ron Winkler? in seinem Nachwort? so gewagt wie treffend formuliert. Dieses Schreiben ist aber zugleich nur möglich durch höchste Geistesgegenwart.

Jeffrey Mc Daniels? Gedichte sind nicht nur ein bedingungsloser, rastloser Streifzug durch das (Er-)Leben. Sie ziehen uns durch die Gleichzeitigkeit von am großen amerikanischen Lyriker? James Tate? geschulten surrealem – oder vielleicht müsste man eher sagen: hyperrealen – Stil und „einfachen“ Beobachtungen von quälend schöner Schärfe in eine poetisierte Welt, die uns bis zur völligen Erschöpfung fordert, die gewohnte Wahrnehmung radikal umkrempelt. In diesem Fegefeuer der Worte findet sich dann ganz unvermittelt die Schönheit, „beschmutzt“ von sämtlichen menschlichen Unzulänglichkeiten und gerade darum von umso größerer Strahlkraft und frei von Verlogenheiten.

Leider ist der deutsche Auswahlband? nicht zweisprachig. Die Lektüre lohnt dennoch – allen berechtigten Zweifeln an der Übersetzbarkeit von Lyrik zum Trotz. Dies ist das Verdienst von Ron Winkler?, der 2005 mit dem renommierten Leonce-und-Lena-Preis? ausgezeichnet wurde. Seine Übersetzung ist ebenso lesbar wie nah am amerikanischen Text und schafft es, eine Ahnung von der poetischen Sprache des Originals zu vermitteln und auf unübersetzbare Wortspiele? und Mehrdeutigkeiten zumindest durch sprachliche Eigenheiten zu verweisen. An einigen Stellen wären vielleicht elegantere Lösungen möglich, es sollte aber nicht vergessen werden, dass wir es mit einer Pionierarbeit zu tun haben. Außerdem könnte man sich fragen, ob sprachliche „Eleganz“ dem Original angemessen wäre.

Wie nah kann Poesie am Leben sein?

Ron Winklers? Nachwort? ist nicht nur eine hervorragende Beschreibung der Mc Danielschen? Lyrik, sondern auch ein Wagnis in eigener Sache: „die Emphasen nicht inszeniert, der Furor nicht fingiert, die Emotionen auf eine reale, tatsächlich existierende Frontlinie im Bewusstsein des Autors verweisend. Dichtung als Ausdruck echter Auseinandersetzung und nicht Emblem eines bloß intellektuellen Spiels.“ Hier wird nicht nur vom Übersetzer der Stil des übersetzten Autors beschrieben, hier positioniert sich – so scheint es – ein deutscher Lyriker? im poetologischen? Diskurs?. Und das in fundamentalen Fragen, die leider viel zu selten gestellt werden, an erster Stelle: Wie nah kann Poesie am Leben sein?

Das schmale Bändchen „Katastrophenkunde“ ist ein rundum gelungenes Buch, vor allem ist es viel mehr als eine Kompilation? von Texten Jeffrey Mc Daniels? in deutscher Übersetzung. Es ist ein Tor zur in der Öffentlichkeit oft sehr isoliert erscheinenden Welt der Lyrik, eine Odyssee durch ihre Möglichkeiten. Und empfehlenswert für jedermann. Denn wer diesen Gedichten noch vorwirft, sie seien kryptisch, gefielen sich in Unzugänglichkeit, dem kann man nur antworten: Sind sie zu stark, bist Du zu schwach.

Literaturangaben

  • Mc Daniel?, Jeffrey: Katastrophenkunde. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ron Winkler. Lautsprecherverlag, Stuttgart 2006. 72 S., ISBN: 978-3932902611

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