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Mittelmäßiges Heimweh

von<br> Wilhelm Genazino

Es ist nicht mehr alltäglich, dass auf im Umfang geschrumpften Feuilletonseiten? von Tageszeitungen und Magazinen ein einziges Buch pro und contra, sprich: doppelt, also platzgreifend besprochen wird. So dieser Tage geschehen mit Genazinos jüngster Buchveröffentlichung. Vielleicht auch deshalb, weil sein Roman „Mittelmäßiges Heimweh“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist.

Kein, muss man neidlos konzedieren, geringes Verdienst seines glänzend vernetzten Verlegers Michael Krüger. Denn seit sich Genazino im Jahr 2000 mit Aplomb vom Hause Rowohlt? verabschiedete und zum Münchner Carl Hanser Verlag? wechselte, scheint seine Produktivität erst recht und von Neuem entfacht. Jedes Jahr ist seither ein neues Buch erschienen oder ältere wurden neu aufgelegt.

Zudem wurde ein jedes davon überdurchschnittlich beachtet (und gelobt – von Elke Heidenreich bis zur „Berliner Literaturkritik“) und Genazino mit wichtigen Literaturpreisen? ausgezeichnet. Außerdem, dies nur am Rande, hat die Gestaltungsabteilung des Hanser Verlages mit Peter-Andreas Hassiepen? Schutzumschläge? gestaltet, die auch im Falle von „Mittelmäßiges Heimweh“ visuell geradezu perfekt das im Inneren Erzählte spiegeln.

Von der Gegenstandslosigkeit und dem Bewusstsein

Etwas anderes muss man dem 1943 geborenen Frankfurter Autor zugestehen. Er hat eine Begabung für besondere Wortprägungen und Titelgebungen von betörendem Reiz. Wer kam schon auf „Liebesblödigkeit“, wer auf „Die Obdachlosigkeit der Fische“, wer auf „Die Belebung der toten Winkel“? Richtig – Genazino.

„Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“, so der Titel eines Genazino-Buches von 2003, beschreibt in nuce die Ausgangssituation auch seines neuen Prosabandes. Dieter Rotmund ist Controller in einem Pharmaunternehmen, bewohnt ein kleines, nahezu unmöbliertes Einzimmer-Apartment in einer Großstadt, in der unschwer Frankfurt am Main zu erkennen ist, und pendelt am Wochenende mit der Bahn Richtung Schwarzwald.

Dorthin, in ihre Herkunftsheimat, ist seine Frau Edith mit der gemeinsamen Tochter Sabine gezogen. Die Ehe steht kurz vor dem Scheitern. Zu sagen haben sich die beiden schon seit Längerem nichts mehr. Von einer Zweisamkeit lässt sich weder tagsüber noch des Nachts, weder beim Picknick in der Natur noch bei versandenden Beischlafsversuchen reden. Was auch an der Inwendigkeit des Helden, besser: Antihelden liegt.

Das wattige Meer der Introspektion

Denn dieser Ich-Erzähler ist ein transparenter Charakter. Er verschwindet fast vollständig und nahezu eigenschaftslos vor dem Alltag. Er zögert, er zaudert, er will nicht herausragen. Er rückt mit nichts heraus. Die Arbeit erledigt er, wie er selbst zugibt, nur mit einem Drittel seines Bewusstseins. Ansonsten herrscht in ihm eine merkwürdige Gegenstandslosigkeit. Und diese schildert Genazino in der ersten Hälfte des Buches auch ausnehmend überzeugend, in schlichten, parataktisch gereihten, prägnant ineinandergreifenden Sätzen.

Dann wird dieser Rotmund zum Finanzdirektor befördert. Die Ehe endet in einem Eklat. Zugleich beginnt er eine mehr oder weniger rein erotische, sich zufällig ergebende Beziehung zu der etwas geheimnisvollen Vormieterin seiner Wohnung. Er wird aktiver, löst gemeinsame Konten auf, er scheint sich freizuschwimmen von der bisherigen Passivität und dem Sichtreibenlassen in einem fotografisch lieblosen, rein additiv wahrgenommenen städtischen Leben.

Die Trennung von Edith wird endgültig. Und seine Geliebte Sonja wird wegen Scheckbetrugs in Haft genommen, was er mehr oder weniger indirekt erfährt. Er trennt die Bande zu ihr. Und treibt wieder zurück ins selbstreflexiv-wattige Meer einer Introspektion?, einer ephemeren Möglichkeitswahrnehmung auch der Brüche im eigenen, irgendwie falsch anmutenden, aber nicht mehr zu korrigierenden Leben und flüchtig aufflackernder Gefühlsaffektation.

Distanz und die Idee davon

Warum aber verharrt dieser relativ schmale Roman über die gesamte lange Mittelpartie, in der der traumartig-solitäre Zustand, den man auch aus den Büchern eines Emmanuel Bove? kennt, abgelöst wird von Handlung, Dialogsituationen und Büroschilderungen, für das Lesepublikum im Stadium unentschiedenen Ungerührtseins?

Vielleicht ist er einfach zu lang; und ein Lektor hätte Genazino, ist man geneigt in Betracht zu ziehen, dazu raten sollen, das Mehr an Handlung herauszuschneiden zugunsten der starken, von ihm präzise gehandhabten Tranceprosa?. Denn auf den letzten zehn Seiten, wo Rotmund dann wieder allein ist, findet Genazino auch sprachlich zu einem überzeugenden Ausklang. Aber hätte ein solches Eingreifen die Grundidee getragen? Das kann füglich angezweifelt werden.

Dieses Buch ist keineswegs so schlecht, wie einige Kritiker meinten und es dazu erklärten, verwöhnt von der Genazino’schen Sprachkunst aus „Ein Regenschirm für einen Tag“. Er gehört aber beileibe nicht zu Genazinos stärksten.

Über weite Strecken nur mittelmäßig

Es verwundert, auch das gehört zu der ersten Stufe der öffentlichen Rezeption dieses Buches, mit welcher offensichtlichen Hartnäckigkeit Autoren – wie eben hier – auf einmal gefundenen Titeln beharren, die das gehetzte Heer armer Rezensentinnen und Rezensenten zu auf der Hand liegenden simplizistischen Wortspielen und -prägungen geradezu einlädt. So einst geschehen bei Hermann Kinders? Roman „Ins Auge“, von dem ihm sein Verleger wortreich, letztlich aber vergeblich auszureden versuchte. Ergebnis? Besprechungen, überschrieben mit Variationen der Wendung „Ins Auge gegangen“.

Sei’s drum: Dieses Buch ist über weite Strecken einfach mittelmäßig. Und man bekommt Heimweh nach großer Literatur – auch und erst recht aus der Feder Wilhelm Genazinos. Schaut man sich die überaus bunt anmutende Liste der Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse an, dann könnten Spötter im Gegensatz zum letztjährigen Kandidatenkreis behaupten: Anno 2007 werden, mit Ausnahme des fulminant-abseitigen Opernromans? Wolfgang Schlüters?, nicht besonders kunstvolle, ja nicht einmal besonders bezwingende Bücher ausgezeichnet, sondern eher Verlage und Verleger (Carl Hanser, Berlin Verlag oder S. Fischer) geehrt.

Aber das wären dann, wie gesagt, rechte Zyniker. Doch auch Diogenes galt einst als klarsichtiger Mann.

Literaturangaben:

  • GENAZINO, WILHELM: Mittelmäßiges Heimweh. Roman. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2007, ISBN: 978-3446208186 192 S., 17,90 Euro

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