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Essay: Das beherrschende Motiv des Buches in Walter Moers' "Die Stadt der träumenden Bücher"

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Walter Moers, Stadt der träumenden Bücher, Buchcover - (c) Piper Verlag

Bücher essen, das fehlt noch. So etwas in der Art muss sich Walter Moers auch gedacht haben und stattete die Buchhaimer Gastronomie mit Schmökerkaffee und Tintenwein aus, mit Gruselpralinen mit Überraschungsfüllung zur Schauerromanlektüre und „einem Dichterlocke genannten Süßgebäck“ . Friedrich Schiller scheint in Zamonien nicht bekannt zu sein. Der eigentliche bibliokulinarische Clou findet auf Seite 79 seine Beschreibung: Der Buchling ist ein süßes Gebäck in Form eines Buches, das auf einem Blatt aus einem alten Buch serviert und vor Verzehr an der Seite angepiekst wird, auf dass die Füllung heraustrete und den Eindruck eines gelben Lesebändchens erwecke. Einige nicht-kulturschaffende Daseinsformen Zamoniens wie die Büchermade ernähren sich hingegen von echten Büchern und sind deshalb in Buchhaim nicht gern gesehen.

Bücher verbrennen? will in Buchhaim hingegen wohl niemand, obschon es die ein oder andere Figur gibt, die zwar an Büchern an sich nichts auszusetzen hat, wohl aber an literarischen Inhalten. In einer Gegend, die so beschrieben wird, wie man sich die prototypische Drogendealer-Gasse vorstellt, bekommt Hildegunst von Mythenmetz von zwielichtigen Gestalten fragwürdige Dienstleistungen angeboten: „He – Verriss gefällig?“ Die Giftige Gasse, bevölkert von Auftrags-Literaturkritikern. Diese Gestalten, von Spezies wie Schmierfinken, erscheinen durch und durch negativ. Die ganze Szene durchwabert ein Nebel des Unheimlichen und Verabscheuungswerten. Und als sei dies nicht genug, steht es dort für die ganz Dummen: „Hier lebte der wahre Abschaum Buchhaims“ . Es besteht wohl kaum ein Zweifel, dass der Autor (welcher als Übersetzer seiner eigenen Figur auftritt) im Literaturkritiker die dunkle Seite des Literaturbetriebs sieht.

Wird der ideelle wie auch materielle Wert von Büchern in diesem Buch vollkommen übertrieben dargestellt, wird die Live-Literatur-Szene als utopische Vision skizziert, so wird gleichsam die Kritik ins Kriminelle und Verabscheuungswürdige dämonisiert. Moers offenbart in einem Interview seine Haltung gegenüber Berufs-Literaturkritikern unmissverständlich: Auf die Frage nach der Identifikation Hildegunst von Mythenmetz' mit Marcel Reich-Ranicki antwortet er: „Mythenmetz ist Schriftsteller, kein Kritiker. Sein Verhältnis zur Literatur ist schöpferisch, nicht parasitär.“ Und bereits in einem früheren Interview zu seinem Buch "Rumo & Die Wunder im Dunkeln" sprach er sich negativ über den deutschen Literaturbetrieb im Allgemeinen und die hiesige Kritikerkultur im Besonderen aus. Es könne nicht sein, dass Kritiker populärer sind als Schriftsteller. Die Giftige Gasse ist Ausdruck dieser Einstellung. Die Giftige Gasse ist Moers' literarischer Anti-Altar für die Buchkritik.

Soviel zu den Dingen, die man mit Büchern machen und die Bücher tun können. Denn schließlich ist in dem Roman die Rede „von einem Ort, wo einen das Lesen in den Wahnsinn treiben kann. Wo Bücher verletzen, vergiften, ja sogar töten können.“ Das Revier solcher Bücher, das sind die Katakomben von Buchhaim, eine chthonische Anderswelt, in der ganz eigene Gesetze herrschen, mit denen es eigentlich nur die Bücherjäger aufzunehmen wagen. In der auch die Bücher nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Die passende Einleitung liefert der gierige Geschäftsmann Phistomefel Smeik, die personifizierte Projektionsfläche für Kapitalismuskritik, speziell auf dem Buchmarkt, am Ende des ersten Teils, als er Mythenmetz belehrt: „Sie gehören tatsächlich zu denjenigen Träumern, die glauben, alle Antworten stünden in Büchern, nicht wahr? Aber Bücher sind nicht grundsätzlich hilfreich und gut. Sie können sogar ausgesprochen bösartig sein. Haben Sie jemals von den Gefährlichen Büchern gehört?“ Darin offenbart er, ganz habgieriger Kapitalist, seine Einstellung Büchern gegenüber als Mittel zum Zweck.

Die Katakomben sind die eigentliche Stadt der Träumenden Bücher. Städtische Strukturen sucht man hier zwar vergeblich, dafür findet man aber umso mehr Träumende Bücher. Doch träumen die Bücher unter der Erde nicht bloß, sie leben, sie töten, sie ernähren und retten Leben.

Der zweite und deutlich längere Teil des Buches ist ganz Abenteuer-/Gruselroman. In dem allerdings den Büchern weiterhin große Bedeutung beigemessen wird. Den Bezug zum real existierenden Buchwesen wird man in diesem Teil vermissen, dafür übernimmt das Buch hier viele wichtige Rollen in intertextuellen Anspielungen, Inspirationen und (genre-)literarischen Klischees. Das Genre der Fantasy kennt vor allem im Bereich der Rollenspiele, digital wie auf Papier, aber auch in klassischen Sword-and-Sorcery-Geschichten sehr viele dunkle Verliese, Katakomben und dergleichen, die alle mit dem englischen Wort für Verlies, dungeon, benannt werden, und zur Grundausstattung eines jeden Dungeons gehört eine Reihe von Fallen. Die subbuchaimischen Katakomben sind nun ein typisches Dungeon-System und von daher wundert es nicht, dass es sich bei den zu erwartenden Fallen um Bücher handelt; eben jenen berüchtigten Gefährlichen Büchern.

Mythenmetz macht mindestens dreimal Bekanntschaft mit solchen von Buchimisten (einer Kombination aus Buchbinder und Alchimist) und Bücherjägern entwickelten Fallen. Einmal wird er vergiftet, bevor er in seiner Lähmung in die Katakomben geschafft wird, ein weiteres Mal lässt eine mechanische Version eines Pop-Up-Bandes ganze Bücherregale einstürzen und versperrt den Weg nach oben, ein weiteres Mal rettet ein explosives Analphabetistisches Terrorbuch ihm das Leben.

Auch an sich harmlose Bücher werden Hildegunst von Mythenmetz aber gefährlich, wenn sie in Massen über ihm liegen. Kontraktionen in diesem Büchermeer rütteln den Protagonisten zwar wieder frei, rufen aber allerhand Buch-See-Ungeheuer auf den Plan, welche ihm abermals nach dem Leben trachten.

Mythenmetz' profunde Kenntnis in zamonischer Literaturgeschichte führt ihn fast bis an die Oberfläche zurück. Indem er sich die Bücher in den Regalen? um ihn herum ansieht, findet er eine Spur für den Weg zurück an die Oberfläche. Da das Werk "Nichts von Bedeutung" dem Gralsunder Egalismus zuzuordnen ist, welcher älter ist als die Abundanten Romane, war der Weg zu wählen, in welchem sich die Romane mit dem ewig wiederholenden Inhalt häuften. Die ältesten Schätze sind stets am tiefsten vergraben, ergo liegen die jungen Epochen dicht unter der Oberfläche.

Die Bücherbahn der Rostigen Gnome, einer längst untergegangenen Zivilisation (auch das ist wieder ein typisches Element phantastischer Abenteuererzählungen), welche erbaut worden ist, Bücherregale auf kürzestmöglichem Wege durch die ausgedehnten Höhlensysteme zu transportieren, beschert dem Helden des Romans eine rasante Verfolgungsjagd durch die maroden unterirdischen Gleisanlagen. Das Motiv der wilden unterirdischen Fahrt auf unsicheren Schienenfahrzeugen, speziell Bergbau-Loren, ist spätestens seit dem Film "Indiana Jones und der Tempel des Todes" (1984) in Literatur, Film und virtuellem Spiel weit verbreitet.

Schloss Schattenhall, Sitz des Schattenkönigs ist erbaut aus Büchern. Der Schattenkönig ist ein künstlich erschaffenes Wesen, eine Art Golem, doch mit Persönlichkeit. Seine Haut ist aus Leder?, sein Fell aus Papier und in seinen Adern fließt Tinte. In seinem Innern wohnt eine Dichterseele. Der Schattenkönig, die Analogie der ungreifbaren, bösen Macht diverser phantastischer Erzählungen, ist also ein lebendiges Buch. Nun fristet er sein Dasein in diesem gewaltigen Schloss aus versteinerter Literatur und seine einzige Gesellschaft findet er in den geheimnisvollen Schatten, die schemenhafte Gestalt gewordene Inspiration zu sein scheinen, und in Lebenden Büchern, die die Rolle des fliegenden und kriechenden Ungeziefers eines Gruselromans einnehmen.

Teilweise aus Büchern erbaut ist die Lederne Grotte, die Heimstatt der Buchlinge. Diese zyklopische, doch friedfertige Daseinsform trägt ihren Namen zu Recht. Nirgendwo anders findet sich eine solche Liebe und unverdrossene Abhängigkeit zum Buch wie bei diesem Volk, welches ihre Heimat in der aus Bucheinbänden tapezierten und erbauten Höhle hat. „Dichtung besteht nicht nur aus Papier, weißt du? Sie berührt alle Aspekte des Lebens“ , bekommt Mythenmetz von dem Buchling Ohjann Golgo van Fontheweg gesagt.

Die Berührung fängt schon bei den Namen der Buchlinge an. Ohjann Golgo van Fontheweg trägt den Namen eines großen zamonischen Dichters, dessen Werk auswendig zu lernen des Buchlings Lebensaufgabe es ist. Jeder Buchling trägt den Namen eines Dichters, dessen Werk er auswendig lernt, und – Achtung: Ebenenwechsel! – dessen Name ein Anagramm? eines nicht-zamonischen Schriftstellers ist (hinter Ohjann Golgo van Fontheweg steckt Johann Wolfgang von Goethe, hinter Dölerich Hirnfidler steckt Friedrich Hölderlin.) Dabei persiflieren? die zamonischen Versionen der Literaten durchaus ihre realen Vorbilder. Aber warum tun sich die Buchlinge diese Mühe des Auswendiglernen eigentlich an? „Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, warum eigentlich alle anderen das nicht tun.“ Ein Axiom.

Das Auswendiglernen ist für die Buchlinge durchaus Anstrengung, weitaus weniger Mühe haben sie mit dem Lesen. Denn sie leben davon. Anders als das kulinarische Buch-Merchandise an der Oberfläche ist für sie echte Literatur Nahrung. Tatsächlich essen Buchlinge Bücher, aber nicht physisch vernichtend und umwandelnd, sondern eher metaphysisch verarbeitend. Sie nehmen Energie mit der Schrift auf. „Leben, lesen – was ist der Unterschied?“ , fragt Golgo und spricht damit eine Stellungnahme aus, die der natürlichen Lebensweise der Buchlinge vollkommen Rechnung trägt. Und die jedes anzunehmende „Bücher sind mein Leben“ eines passionierten Büchersammlers zur Heuchelei degradiert.

Hier nutzt Moers die Gelegenheit der Analogie Cuisine – Literatur zu einem wertenden Rundumschlag über die Vielfalt des Schrifttums. Da ist die Rede von Lyrik-Diäten, die wichtige Nährstoffe liefern, ohne massig zu sein. Klassiker sind ebenfalls nährstoffreich, von Horrorromanen gibt es Alpdrücke, Verrisse „hinterlassen einen schlechten Nachgeschmack.“ (Wieder Kritikkritik!) Ein wenig Unbehagen bereitet es den Buchlingen schon, von Mutter Natur mit einer Verquickung des edlen Lesens und der profanen Verdauung ausgestattet worden zu sein, aber schließlich hat Golgo einen weiteren, geradezu philosophischen Gedanken zum Verhältnis seiner Art zu Büchern, ausgesprochen: „Manchmal denke ich, dass wir die Einzigen sind, die wirklich was von der Literatur haben [...] All die anderen haben nur Arbeit mit den Büchern. Sie müssen sie schreiben. Lektorieren. Verlegen. Drucken?. Verkaufen?. Verramschen?. Studieren. Rezensieren. Arbeit, Arbeit, Arbeit – wir dagegen müssen sie nur lesen.Schmökern?. Genießen. Ein Buch verschlingen – wir können's wirklich. Und werden auch noch satt davon.“

Nach wochenlanger Arbeit mit wissenschaftlicher Literatur, dem Querlesen, Lesen, Recherchieren, Exzerpieren, Kapieren, Zusammenfassen, war es eine wahre Wonne für mich, ein Buch wie die Stadt der träumenden Bücher zu lesen. Ich liebe Bücher, ich beschäftige mich gerne mit ihnen, arbeite gerne mit ihnen. Aber manchmal ist es wirklich geradezu elysisch, einen guten Roman zu lesen und einfach nur zu genießen. „Nur lesen. Schmökern. Genießen. Ein Buch verschlingen.“ Für mich ist der Gedanke des Buchlings nachvollziehbar. Aber irgendjemand muss sich die Arbeit mit der Literatur machen, die andere genießen wollen. Und solange die Bücher einen nicht umbringen wollen, ist es eine angenehme und edle Arbeit. Das ist meine persönliche Meinung.

Denn hier hört der Essay auf.

Autor: Marek Firlej

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