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Perutz, Leo

Leo Perutz (geb. 2. November 1882 in Prag; gest. 25. August 1957 in Bad Ischl) war ein jüdisch-österreichischer Schriftsteller und Versicherungsmathematiker. Er gilt als herausragender Repräsentant der phantastischen Literatur in Deutschland.

Leben

Leo Perutz wurde als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten in Prag geboren. 1899 siedelte die Familie nach Wien über, wo Perutz zum Versicherungsmathematiker ausgebildet wurde. Von ihm stammt die „Perutzsche Ausgleichsformel“, die lange Zeit in der Versicherungsbranche verwendet wurde. Von 1907 bis in die 1920er Jahre war Perutz als Versicherungskaufmann tätig. Im Oktober 1907 war er in Triest bei der „Assicuranzioni Generali“ angestellt, in deren Prager Zweigstelle im selben Monat Franz Kafka seine Arbeit als „Aushilfskraft“ aufnahm.

Am Ersten Weltkrieg nahm Leo Perutz zunächst als Landsturminfanterist des k.u.k. Infanterieregiments 88 teil. Bei der an der Front in Galizien gelegenen Ortschaft Burkanow wurde er durch einen Lungensteckschuss lebensgefährlich verletzt. Es folgten mehrere Operationen. Eine Blutvergiftung verschlechterte seinen Gesundheitszustand dramatisch. Mehrere Wochen schwebte Leo Perutz zwischen Leben und Tod. Nach seiner Genesung wurde er zum Landsturmleutnant befördert und dem Kriegspressequartier zugeteilt, wo auch Hugo von Hofmannsthal?, Robert Musil und Franz Werfel? ihren Dienst versahen. Ab April 1918 arbeitete er als Kriegsberichterstatter für die in Prag erscheinende Tageszeitung? „Bohemia“, deren Feuilleton? durch die Mitarbeit von Fritz Mauthner?, Paul Wiegler? und Johannes Urzidil? im gesamten deutschsprachigen Raum große Beachtung fand.

Das Ende des Krieges, den Zusammenbruch der Habsburg-Monarchie und die Revolutionszeit erlebte Leo Perutz in Wien. Dort besuchte er Versammlungen der Anarchisten, Kommunisten und Sozialdemokraten. Aus Briefwechseln? mit Schriftsteller-Kollegen geht hervor, dass er den Zusammenbruch der Monarchie als großes Verhängnis für Europa bewertet hat. Dieser Auffassung ungeachtet, war er pragmatisch genug, um in der neuen politischen Situation die Sozialdemokratie gegen die reaktionären Kräfte zu unterstützen. So gewährte er Egon Erwin Kisch, dem Führer der Roten Garde, auf dessen Kopf nach dem Zusammenbruch der Revolution ein Jagdgeld ausgesetzt war, mehrmals Unterschlupf.

1915 debütierte? Leo Perutz mit dem historischen Roman „Die dritte Kugel“, mit dessen Niederschrift er bereits als Gymnasiast begonnen hatte. Kurt Tucholsky besprach diesen Roman sehr positiv, in dem anhand der Konfrontation des protestantischen Grafen Grumbach mit dem katholischen Eroberer Cortez die Zerstörungswut europäischen Denkens exemplarisch vorgeführt wird. Es folgten weitere Romane wie „Zwischen neun und neun“ (1918) und „Der Meister des jüngsten Tages“ (1923), mit denen Perutz beim Publikum? große Erfolge hatte. Leo Perutz war zwischen 1918 und 1933 einer der meistgelesenen Autoren deutscher Sprache. Mehr als drei Millionen Leser verfolgten 1928 den Erstabdruck seines Nachkriegsromans? „Wohin rollst du, Äpfelchen?“, der in der damals größten Illustrierten Europas, der „Berliner Illustrierten Zeitung“, in Fortsetzungen erschien. Die Buchausgabe war neben Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ einer der erfolgreichsten Romantitel am Ende der Weimarer Republik. Die Bücher von Perutz erschienen vor allem bei Langen? und Ullstein?.

In seinen spannenden Romanen, Erzählungen und Theaterstücken stellte Leo Perutz Gestalten und Begebenheiten dar, die im Bereich des Phantastischen angesiedelt sind. Zentrales Motiv seiner literarischen Arbeiten sind Fragen wie: „Was ist Wirklichkeit?" "Wie fragwürdig ist unsere Identität?“. 1933 wurden seine Bücher in Deutschland, 1938 in Österreich verboten. Zunächst blieb Perutz in Österreich, wo nun seine Werke beim Zsolnay Verlag? erschienen. Als dann die Nazis 1938 in Wien einmarschierten, emigrierte Leo Perutz nach Tel Aviv, wo er wieder als Versicherungskaufmann tätig war. 1953 erschien sein Meisterwerk „Nachts unter der steinernen Brücke. Ein Roman aus dem alten Prag“, in dem er das düstere Gassengewirr seiner Heimatstadt Prag heraufbeschwört. 27 Jahre hat Leo Perutz an dem Roman geschrieben. Im Urteil der Literaturkritik ist „Nachts unter der steinernen Brücke“ ein in der Literatur des 20. Jahrhunderts einzigartiger Roman.

Trotzdem gelang es Perutz weder privat noch künstlerisch, sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder im deutschsprachigen Raum zu etablieren. Literarische Erfolge feierte er vor allem in Südamerika, nicht zuletzt durch die Vermittlung seines Freundes Jorge Luis Borges?, der ihn hier bekannt machte.

In den Sommerferien reiste Leo Perutz gleichwohl nach wie vor in die alte Heimat, nach Bad Ischl. Hier verstarb er auch überraschend im Jahr 1957.

Literarische Arbeiten

Zwischen neun und neun, Roman (1918)

Der Student Stanislaus Demba braucht 400 Kronen. Beschafft er sie nicht, fährt seine Freundin Sonja mit einem Nebenbuhler nach Venedig. Demba bleiben 12 Stunden, um das Geld aufzutreiben: von neun Uhr vormittags bis neun Uhr abends.

Demba irrt wie im Fieberwahn durch Wien. Es ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Für den Studenten ist die Welt ein groteskes Zerrbild, in dem das Leben der Menschen von Ängsten, Zwängen und Obsessionen beherrscht wird. Jedes Kapitel führt Demba in ein anderes Milieu der Wiener Gesellschaft. Die Hetzjagd findet ein gewaltsames Ende.

Die Literaturkritik hat darauf hingewiesen, dass es sich bei Stanislaus Demba um einen modernen Helden par excellence handle, der mit seiner amorphen Identität und ihrer unaufhörlichen Bedrohung durch die Außenwelt zu kämpfen habe. Darüber hinaus habe, so der Kritiker Franz Rottensteiner?, etwas von Raskolnikow?, ein Stück Herr Karl und sehr viel Don Quixote? auf diesen Helden abgefärbt. Das macht den Roman nicht nur zu einem spannenden Lesevergnügen, sondern auch zu einem beziehungsreichen literarischen Kunstwerk.

Wohin rollst du, Äpfelchen?, Roman (1928)

Im Wien um die Jahreswende 1918/19 versuchen die Menschen, die Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Untergang der Habsburg-Monarchie zu vergessen. Sie flüchten in einen Vergnügungsrausch. In dieser Atmosphäre schmiedet der ehemalige österreichische Offizier Georg Vittorin wahnwitzige Rachepläne. Er kann die Demütigungen nicht vergessen, die ihm ein russischer Oberst in der Kriegsgefangenschaft zugefügt hat.

Eine Verfolgungsjagd beginnt, die Vittorin durch die Sowjetunion, nach Bukarest, Mailand, Paris und Rom führt. Sie endet in Wien, wo der russische Oberst inzwischen lebt. „Daheim bleiben, warten, eines Tages eine Straße hinauf gehen, um die Ecke biegen. Mehr wäre nicht zu tun gewesen.“ Es kommt zum Duell zwischen den beiden.

Ian Fleming, der Schöpfer der James-Bond-Figur, hat nach der Lektüre des Romans einen Brief an Leo Perutz geschrieben. Darin stellte er Leo Perutz das Zeugnis aus, mit „Wohin rollst du, Äpfelchen?“ einen genialen Roman geschrieben zu haben.

Nachts unter der steinernen Brücke, Erzählungen (1953)

In 14 Erzählungen entwirft Leo Perutz einen historischen Bilderbogen vom Prag an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Um die Figuren des böhmischen Königs Rudolf II., des legendenumwobenen Hohen Rabbi Loew und des reichen Financiers Mordechai Meisl ranken sich die Geschichten. Das Leitmotiv? ist die Liebe zwischen Kaiser Rudolf II. und der schönen Esther, der Frau seines Financiers Meisl. Eine Liebe, die gegen Gottes Gebot verstößt und zu schweren Konflikten führt. Am Ende stehen der Tod der schönen Esther und die Zerstörung der Prager Judenstadt.

Seine Atmosphäre bezieht der Roman aus der präzisen Kenntnis der Prager Historie und Topografie. Das Judengetto, der Hradschin, die Gassen der Altstadt, Friedhöfe und Gasthäuser werden authentisch geschildert. Neben den historisch belegten Figuren ergänzen Phantasiegestalten das Romangeschehen.

Zunächst konnte Leo Perutz keinen Verleger für seinen Roman finden, in dem er selber nichts weiter als eine Verbeugung vor dem alten Prag sah. In einem Brief an Hugo Lifczis? reagierte er mit Entrüstung auf das Ablehnungsschreiben des Wiener Verlegers Paul Zsolnay?. Zsolnay, so Perutz in dem Brief an Hugo Lifczis, schone die Empfindlichkeiten jenes Wiener Gesindels, das nicht gerne daran erinnert werden wolle, dass es Juden gebe, gegen die es sich schlecht benommen habe.

Ehrungen

  • 1962 Prix Nocturne (posthum)

Übrigens ...

Leo Perutz war ein leidenschaftlicher Sammler. Seine Kollektion von alten Schwertern, Säbeln und Goldmünzen gilt als beachtlich. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, wurde er gezwungen, seine Münzsammlung an das Wiener Münzkabinett abzutreten.

Werke (Auswahl)

Sekundärliteratur

  • Forster, Brigitte / Müller, Hans-Harald und andere: Leo Perutz. Unruhige Träume - abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Wien, Sonderzahl-Verlags-Gesellschaft m.b.H. 2002, ISBN-13: 978-3854491972
  • Lauene, Peter: Die Krise des Helden. Die Ich-Störung im Erzählwerk von Leo Perutz. Bern / Berlin / Wien, Peter Lang Verlagsgruppe 2004, ISBN-13: 978-3631529577
  • Lüth, Reinhard: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen, Corian-Verlag Heinrich Wimmer 1988, ISBN-13: 978-3890481166
  • Neuhaus, Dietrich: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz. Bern / Berlin / Wien, Peter Lang Verlagsgruppe 1984, ISBN-13: 978-3-8204-7771-9
  • Siebauer, Ulrike: Leo Perutz. Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich. Gießen, Psychosozial-Verlag 2002, ISBN-13: 978-3883506661

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