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Revolution und Filzläuse

von<br> Torsten Schulz

Der Beginn der Kurzgeschichten-Sammlung führt zum Schauplatz von Schulz’ letztem Roman: an den Boxhagener Platz mitten in Berlin-Friedrichshain. Der „Feuermelder“ bildet seit Jahrzehnten die Tränke der Kiezbewohner. Jedoch scheint außer dem Namen nichts Authentisches überdauert zu haben: Die einstige Eckkneipe, deren proletarischen Charme der Protagonist aus den Erzählungen seines Vaters kannte, eröffnete nach jahrelanger Schließung als Szenetreff. Das Wiederaufsuchen der einst vertrauten Orte scheint bedeutungslos, muss sich der Erzähler eingestehen, denn die Spuren von einst sind geschliffen durch die Zeit. Der alte Feuermelder hingegen symbolisiert den fernen Kosmos des ebenso fernen Vaters, dessen Beerdigung der Sohn verpasste, weil er durch Lateinamerika reiste.

Der Auftakt beinhaltet bereits zwei Motive, die sich durch die elf weiteren Geschichten ziehen. Der leise Abschied der Menschen und der stetige Wandel der Orte. Der Boxhagener Platz steht in diesem Fall aber ebenso für das Aufeinandertreffen des „alten“ und des „neuen“ Berlins. „Revolution und Filzläuse“ verbindet Geschichten aus der Zeit als die Mauer noch stand mit der hektischen Aufbruchsstimmung der Nachwende-Epoche und der Gegenwart, in der sich die Stadt versucht, als Metropole zu manifestieren. So unterschiedlich der Geist in den verschiedenen Jahren auch sein mochte – Schulz illustriert das Zufällige, das bisweilen das menschliche Miteinander diktiert.

Der Titel ist programmatisch

Der Titel des Buches scheint programmatisch: Verkörpert der Begriff der „Revolution“ etwas Abstraktes, ein Wort, das jeder Leser mit einer unterschiedlichen Konnotation verknüpft, so stellt die „Filzlaus“ dagegen etwas Konkretes, vermeintlich Profanes dar. Diese Kombination erlebt der Student Thomas in der tragikomischen Titelgeschichte?. Für Politik interessiert sich der angehende Betriebswirtschaftler kaum, dafür umso mehr für die Kunststudentin Nicole. Deren Herz wiederum gehört dem doppelt so alten Amerikaner Sam Berger, der eine Leidenschaft für die kubanische Revolution und für schöne Frauen hegt. Thomas’ Strategie, selbst zum Kuba-Experten zu avancieren und damit Nicole näher zu kommen, scheint kurzzeitig aufzugehen. Jedoch bleiben die Zuckerrohr-Insel und die sozialistische Revolution für Thomas genauso fern wie die Liebe Nicoles. Deutlich konkreter und präsenter hingegen bleibt das Vermächtnis einer vietnamesischen Prostituierten, die Thomas fortan in unzähligen Nächten vergeblich sucht …

Torsten Schulz lehrt an der renommierten Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. Als Professor der Praktischen Dramaturgie vermittelt er den Studenten die Grundlagen der Erzähltechnik. „Revolution und Filzläuse“ fungiert als Beispiel einer dichten Erzählweise, die mit lebensnahen, nachvollziehbaren Figuren und deren authentischer Sprache überzeugt.

Komische, bewegende und melancholische Momente lösen sich ab

Glücklicherweise verzichtet Schulz auf einen konstruierten roten Handlungs-Faden, der sich durch die kurzen Erzählungen zieht. Stattdessen blitzen in den 12 Geschichten eine Fülle von Momentaufnahmen der Sehnsüchte und Träume seiner Protagonisten auf. Deren Trauer um vergebene Lebenschancen verliert sich dabei oft in ihrer Introvertiertheit, in der bisweilen schrulligen Kommunikationsunfähigkeit. Aufgrund der genauen Beobachtung, der faszinierenden Details und der exakten, regelrecht plastischen Zeichnung der Situationen wird die Ambivalenz der Figuren deutlich. Jedem Drama geht eine Geschichte voraus. Schulz gelingt es, diese mitzuerzählen. „Mir geht es bei den Figuren nicht um Sympathie, vielmehr um Empathie“, erklärte der Autor im Berliner Brecht-Haus nach der Lesung aus seinem Buch.

So lösen sich komische, bewegende und melancholische Momente fließend ab. Schulz entdeckt in der Beschreibung des vermeintlich Alltäglichen das Besondere und Einzigartige. Dadurch erscheint die Kurzprosa ebenso fesselnd wie auch poetisch.

Literaturangaben

  • Schulz, Torsten: Revolution und Filzläuse. Erzählungen. Ullstein Verlag, Berlin 2008. 160 S., 16 €, ISBN: 978-3550078989

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