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Tristanakkord

von<br> Hans-Ulrich Treichel

Hans-Ulrich Treichels bereits im Jahr 2000 erschienener Roman erzählt von Georg, einem Germanisten?, der gerade sein Magisterstudium an der Freien Universität Berlin beendet hat und nun auf seine Zukunft wartet. Die Zuwendungen des Sozialamtes betrachtet er als „sein erstes Magistergehalt“ für seine lyrischen Versuche (denn heimlich und ein bisschen verschämt versteht er sich als Dichter), das er dazu nutzt, an dem Antrag für ein Doktorandenstipendium zu arbeiten.

Durch einen Zufall gerät Georg zu Beginn des Romans an einen außergewöhnlichen Job: er soll einem berühmten deutschen Komponisten bei der Überarbeitung seiner Lebenserinnerungen? behilflich sein, die dieser publizieren will. Deshalb wird der reisende Georg zunächst von einem Bentley fahrenden Angestellten des Komponisten am Fährhafen einer abgelegenen schottischen Insel aufgelesen und zu einer noch abgelegeneren schottischen Insel gefahren, auf der sein erster Arbeitgeber ihn erwartet.

Die seltsame Beziehung des exzentrischen Komponisten zu seinem jungen Mitarbeiter und der Kontrast seines kosmopolitischen Lebensstils mit dem des aus der westfälischen Provinz stammenden Georg durchziehen den gesamten Roman: Georg begleitet den Gefeierten und dessen Entourage nach New York, wo er sich provinziell und ungeschickt vorkommt, Georg kehrt zurück nach Berlin, wo er sich an seiner Dissertation versucht, Georg reist nach Italien zur Villa des Komponisten, wo er sich mit einer neuen Herausforderung konfrontiert sieht. Der Meister, der „einen speziellen Blick für die Schwächen seiner Mitmenschen“ hat, scheint nur für die Musik zu leben und kümmert sich im Gegensatz zu Georg nicht im geringsten um den Eindruck, den er bei anderen hinterlässt.

Wir lesen hier einen modernen Bildungsroman?: Der Protagonist befindet sich an einem Wendepunkt seines Lebens und sucht seinen Platz in der Gesellschaft. Er erfährt eine aussichtslose Verliebtheit und die Realitäten der Welt, insbesondere die des Musikbetriebs. Unschlüssig zwischen seinen eigenen künstlerischen Ambitionen und einer akademischen Karriere pendelnd, gerät er in einige groteske Situationen, die der Autor mit Klarsicht und Ironie? schildert. So entlarvt er etwa mit lakonisch-distanziertem Tonfall Georgs Versuche, sein musikalisches Halbwissen gewinnbringend einzusetzen: „Der Tristanakkord war der einzige Akkord, den Georg dem Namen nach kannte. Darum neigte er auch dazu, immer wenn er Wagner oder Wagnerähnliches und einen sehnsüchtig-traurigen und irgendwie unerlösten Akkord hörte, sofort zu sagen: `Der Tristanakkord´. Das hatte gelegentlich, besonders bei einigen Germanistikstudentinnen, Eindruck gemacht, bis zu dem Tag, als er an eine Germanistikstudentin geraten war, die im Nebenfach Musikwissenschaft studierte. Er hatte die Kommilitonin zum gemeinsamen Kochen und Abendessen eingeladen. Während des Kochens hatte er Miles Davis und zum Essen Tristan und Isolde aufgelegt und dabei mehrmals und wie nebenher `Der Tristanakkord´ gesagt. Als er, sie waren schon beim Dessert, noch einmal `Der Tristanakkord´ gesagt hatte und dabei seine Hand auf ihre legen wollte, hatte sie die Hand zurückgezogen und ohne Umschweife geäußert: `So geht das nicht´. Danach hatte sie sich ziemlich rasch verabschiedet und ihn auch nie wieder angerufen.“

Georgs desillusionierende Erfahrungen in der internationalen Kulturszene werden gnadenlos seziert (sein Lyrikmanuskript erscheint bei einem Berliner Kleinverlag? namens „Edition Ausweg“ und seine Doktorarbeit soll „Das Vergessen in der Literatur“ behandeln); seine ungewisse Zukunft deutet sich schon im Titel an.
Im italienischen Domizil des Komponisten sieht sich Georg schließlich mit der für ihn schmeichelhaften Aufgabe konfrontiert, eine Hymne? als Text für ein neues Musikstück schreiben zu dürfen („absolut anachronistisch die ganze Sache“, sagt der Komponist, „eine schöne Hymne, eine überwältigende Hymne, er denke an Hölderlin, weniger an Schiller, aber an einen Hölderlin der Gegenwart“). Da Georg nicht viel Zeit zur Verfügung steht und die Vorgaben ihn verwirren, trifft er eine nicht ganz einwandfreie Entscheidung. Wohin sein weiterer Werdegang ihn führen wird und ob er seine Ambitionen wird verwirklichen können, bleibt offen: „Lethe?“ , sagt Georgs Doktorvater schelmisch, „und nicht Mnemosyne?“.

Literaturangaben

  • Tristanakkord. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 233 S., 9 €, ISBN: 978-3518456170

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