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Neues vom kleinen Nick

von<br> René Goscinny und Jean-Jacques Sempé

Die Lust auf Neues ist eine uralte menschliche Eigenschaft. Gerade auf dem Markt der Literatur versuchen immer wieder Autoren, das Rad neu zu erfinden. Meist ohne großen Erfolg, denn die Zahl der Wörter und ihrer sinnvollen Kombinationen ist zwar riesig, aber nicht unerschöpflich, und so erkennt man auch bei vermeintlich Neuem schnell die altbekannten Versatzstücke, und ein bisschen neue Farbe macht eben noch keine Neuschöpfung.

Daher gibt es zwischen all den echten oder vorgeblichen Premieren auch durchaus eine Lust auf das, was wir "Klassiker" nennen, frühere Erfolge, deren Kreativität und handwerklich saubere Arbeit den Vergleich mit den "Neuheiten" nicht zu scheuen braucht. Der schwergewichtige Sonderband? "Neues vom kleinen Nick" der französischen Autoren René Goscinny? und Jean-Jacques Sempé? fällt, obwohl eine Neuerscheinung? auf dem Buchmarkt, in diese Kategorie. Denn in den 1950er und 1960er Jahren entwickelten Autor und Zeichner diese Geschichten um einen französischen Grundschüler, seine Familie und seine Schulkameraden als Kolumnen? für die Zeitung SUD OUESTE DIMANCHE, wo sie über mehrere Jahre mit großem Erfolg veröffentlicht wurden.

Wenige Jahre später erschienen mehrere Bände mit jeweils ca. 15 Geschichten in deutscher Übersetzung beim Diogenes Verlag und faszinierten seitdem auch hiesige Leser. 80 der ursprünglichen Geschichten waren jahrelang verschollen und tauchten erst bei einem Umzug der Tochter Goscinnys eher zufällig wieder auf. Diese Geschichten und die dazugehörenden Illustrationen versammelt nun der vorliegende Band, der damit die früheren Ausgaben im Umfang weit übertrifft.

Der Text

Und obwohl die Geschichten das Zeitkolorit vor etwa fünfzig Jahren schildern, Schulsystem und Lebensbedingungen weit entfernt scheinen, beeindrucken von der ersten Seite an die unverbrauchte Frische der Darstellung und die Unmittelbarkeit des Miterlebens. Genau so würde auch heute ein aufgeweckter Junge seine Erlebnisse schildern – nicht in schriftlicher Form, sondern im mündlichen Erzählen. Nirgendwo klingt eine Bemühung um einen kindlichen Ton heraus, nie entsteht der Eindruck des "Erwachsener-versteckt-sich-in-Kinderrolle". Stets scheint alles authentisch und "wie gewachsen", drängt sich der alte Spruch "Kindermund tut Wahrheit kund" auf, bis man sich erinnert, dass es sich ja durchaus um erwachsene Autorenschaft handelt.

Die unmittelbare Wirkung der Erzählung nimmt den Leser mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die dabei oft schneller wechseln "als die Polizei erlaubt". War man eben noch zu Tränen gerührt, beeindruckt im nächsten Augenblick die Hellsichtigkeit der Beobachtung, um sofort wieder einem unwiderstehlichen Lach¬anfall ob der Absurdität eigentlich alltäglicher Vorfälle zu weichen. Denn es geht ja nicht eigentlich um Sensationen, Nick schildert nur ganz alltägliche Situationen, deren Komik in der Wahrnehmung des ihnen oftmals innewohnenden Wahnsinns liegt, eine Erwachsenen meist abhanden gekommene Fähigkeit. Hier zeigt sich dann auch zum ersten Mal ein grundsätzlicher Rezeptionsunterschied bei Lesern verschiedener Altersstufen: Gerade viele irreale Situationen, die erwachsenen Lesern die Lachtränen in die Augen treiben, erzeugen bei kindlichen Lesern kaum eine Reaktion, weil sie für sie mit der Alltagserfahrung kongruent sind.

Diese Alltagserfahrungen prägen den kleinen Nick: Er kennt seine Position in der allgemeinen Hackordnung ganz genau, er hadert nicht mit seinem Schicksal, wenn er – tatsächlich oder vermeintlich – ungerecht behandelt wird, er arbeitet an seinem hierarchischen Standort nur dort, wo das auch Aussicht auf Erfolg hat, und hat es ansonsten perfekt gelernt, sich möglichst reibungsarm durch die oft unverständliche Welt der "Großen" hindurchzulavieren. Das klappt natürlich nicht immer, unbekannte Spielregeln lassen sich nur schwer einhalten, und seinen Spaß will er ja sehr wohl haben. Und den hat er letzten Endes auch immer, mehr jedenfalls als seine erwachsene Umgebung, die allerdings das Maß seines Einfühlungsvermögens und seiner Flexibilität auch um Klassen verfehlt. Das verwundert bei genauerem Hinsehen, denn es handelt sich schließlich um das selbst erfundene "Spiel" der Erwachsenen, um ihre Spielregeln und ihr Spielfeld, doch deswegen rührt das alltägliche "Survival"-Training der Kinder und ihr letztendlich erfolgreiches Einrichten in ungeahnten Nischen ja auch gerade den erwachsenen Leser. Und Kinder genießen es, einmal in ihrer innersten Wahrheit erkannt und anerkannt zu werden.

Anrührend sind in Nicks Erfahrungswelt auch die oftmaligen Momente des Verständnisses für die Widrigkeiten des Erwachsenenlebens, etwa wenn Nick seinen Papa bedauert, dass der seine Zeit für einen Zoobesuch mit den Kindern opfert, obwohl er doch Tiere augenscheinlich gar nicht mag – rückgeschlossen aus seinem Desinteresse an einer Hauskatze, die die Kinder mehr fasziniert als alle Zooexoten und Papas kluge Erläuterungen dazu. Aber – und das versteht ein Erwachsener eben nicht – die Katze lässt sich eben wortwörtlich "begreifen".

Diese unverstellte Direktheit und Unmittelbarkeit beeindruckt beim Lesen das in ähnlicher Vorstellungswelt lebende Kind, überrascht und amüsiert den erwachsenen Leser und macht sichtbar, wie weit der Weg von einer Literatur über Kinder zu einer solchen mit Kindern und aus ihrer Sichthöhe ist. Goscinny erweist sich hier als Meister "kindlicher" und nicht etwa "kindischer" Betrachtungs- und Erzählweise. Und auch wenn dieser Vergleich zunächst verblüfft: Spätere Werke wie LUCKY LUKE oder ASTERIX beziehen einen großen Teil ihrer Effekte aus diesem un-erwachsenen Blick.

Gerade eine einfache, geradlinige, scheinbar simple Sprache verlangt einer Übersetzung große Leistungen ab. Hans-Georg Lenzens Übertragung erscheint an keiner Stelle "übersetzt", die spontane Bewertung sagt sofort "authentisch".

Die Bilder

Jean-Jacques Sempé gelingt mit seinen Illustrationen eine kongeniale grafische Umsetzung von Typbeschreibung, Atmosphäre und Momentaufnahme. Seine fast simpel wirkenden Linien, die oft nur angedeutete Charakterisierung und die sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzten Details geben der eigenen Fantasie Stoff für ausuferndes Weiterspinnen, lassen aber gleichzeitig Raum für die beim Lesen immer vorhandenen "inneren Bilder".

Die CD

Aus dem gleichen Verlag liegen neun Geschichten des Buches auch in einer Hörfassung, gelesen von Rufus Beck, vor. Wer Rufus Beck schon einmal lesen gehört hat, weiß, was ihn erwartet: Immer ein absoluter Höhepunkt akustischer Gestaltung, alles andere als "vorgelesen", erst recht alles andere als "gestaltet" im manierierten Stile mancher Schauspielerkollegen. Jedes Wort ist richtig, ursprünglich, erweist sich als "so-und-nicht-anders-geht-es-überhaupt", man kann kaum glauben, dass Beck fremde Texte und nicht selbst Erlebtes erzählt ("vorträgt" wäre schon die falsche Bezeichnung).

Hörbar durchlebt er jede einzelne Situation, plaudert, nörgelt, zankt, räsoniert oder lacht, weil es gar nicht anders möglich ist. Und wie schon bei anderen Gelegenheiten (und das war ja nicht nur "Harry Potter"!) eröffnen sich vom ersten Wort an innere Landschaften, Farben, Menschen und Situationen, ohne dass man je auf die Idee käme, da sei etwas gespielt. Jeder Figur eignet eine eigene, markante Melodie mit fein ziselierten Nuancen, doch es scheint nie, als ob Rufus Beck die Stimme verstellt. Es erscheint fast unmöglich, bei einem Hörspiel mit verteilten Rollen, Geräuschen und Musik eine auch nur annähernd vergleichbare Tiefe an Authentizität und "gefühlter" Ehrlichkeit zu erreichen – man möchte es aber nach einer Beck-Lesung auch gar nicht mehr erleben.

Nun sollte man meinen, dass – zumindest nach den "Potters" – irgendwann ein Sättigungseffekt an dieser Stimme und ihren natürlich vorhandenen Techniken auftritt. Weit gefehlt! Ähnlich einer nebenwirkungsfreien Droge wächst nur noch immer der Appetit auf mehr, es nutzt sich nichts ab. Weil gar keine Kunst spürbar wird. Klarerweise ist die Technik nicht nur vorhanden, sie wird auch virtuos eingesetzt, doch wie beim Kunstgesang oder auf der Bühne fehlt jede Aufdringlichkeit, jeder merkbare Kniff oder Trick, alles erscheint zwingend natürlich und "gar nicht anders möglich". Das liegt vor allem auch an einer Sprachmelodik, die spielerisch mit Höhen und Tiefen, Schlenkern und retardierenden Momenten "zaubert" und gerade in diesem scheinbaren Fehlen von "Kunst" die höchste künstlerische Reife erweist.

Überflüssig zu erwähnen, dass natürlicher Wohlklang und Beherrschung sprachlicher Mittel zur Grundausstattung Becks gehören. So erstaunlich ein solcher Vergleich wirken mag, erinnert die Virtuosität Becks an die gänzlich andersartigen, aber ähnlich wirkungsvoll eingesetzten Mittel der Bühnensprache eines Curt Goetz, der zwar entsprechend den Gewohnheiten und Bedingungen seiner Zeit schärfer, "bühnenmäßiger" artikulierte, aber mit ähnlicher Raffinesse mit Untertönen spielen und doppel- bis mehrdeutig zwischen Gurren und Grollen hin und her springen konnte.

So weit die Verbreitung des Hörbuches heute auch gediehen ist, so kontrovers ist oft die Bewertung dieser Literaturform, die dem "Konsumenten" zwar das eigene Lesen abnimmt, aber einen fremdbestimmten Rhythmus der Rezeption zwingend vorgibt. Doch auch einem erbitterten Gegner dieser Präsentationsform kann man nur dringend empfehlen, sich den Genuss dieser CD wenigstens probeweise einmal zu gönnen. "Es zergeht auf den Hörnerven!"

Originalbeitrag unter www.alliteratus.com

Literaturangaben

  • René Goscinny/Jean-Jacques Sempé: Neues vom kleinen Nick. Achtzig prima Geschichten vom kleinen Nick und seinen Freunden. Aus dem Französischen von Hans-Georg Lenzen. Zürich, Diogenes 2005, 648 Seiten, € 24.90 ISBN: 978-3257011203
  • Hörbuch-Version, gelesen von Rufus Beck: Zürich, Diogenes 2005, 75 Minuten, € 14.90, ISBN:

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