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Vita Classica

von<br> Steffen Möller

Man hat sie – oder man hat sie nicht. Sie ist unerbittlich, sie lässt keine Wahl; sie ist keine sanfte Verführerin; nein, sie überwältigt: jäh, fordernd, rasend wie die ganz große Liebe. Und sie lässt sich ebenso wenig abstreifen wie diese. Ihre Ursachen sind unbekannt, Gegenmittel nicht erforscht, doch die Folgen umso absehbarer: Wen die Leidenschaft für klassische Musik bereits als Jugendlichen in ihrem unerbittlichen Griff hält, dessen irdisches Dasein ist verpfuscht, der muss sich auf eine Zukunft als Geächteter einstellen. Ganz klar: Wer sich einmal der Klassik verschrieben hat, der ist und bleibt ein Nerd. Lebenslänglich.

So zumindest, wenn man Steffen Möller? (Jahrgang 1969), Autor des Bestsellers „Viva Polonia“, glauben darf, der in seinem zweiten Buch „Vita Classica“ (erschienen 2009 im Scherz-Verlag?, Frankfurt am Main) nicht ohne feine Selbstironie die Seelennöte eines jungen Mannes schildert, dem nur allzu bewusst ist, dass man sich vor Gleichaltrigen unwiderruflich ins gesellschaftliche Abseits katapultiert, sobald man eine nonkonformistische, absonderlich anmutende Neigung erkennen lässt, unvereinbar mit dem allgegenwärtigen – nur alterstypischen? – Gruppenzwang. Lebenslänglich. Abbado statt Abba, Bizet statt Beatles, Rachmaninov statt Rammstein – das sind nicht eben die Vorlieben, mit denen in einem Umfeld, dem die Kenntnis der Charts und der angesagten Popmusik als unverzichtbares Erkennungszeichen, als Eintrittskarte zur Community gelten, Staat zu machen ist. Klassik gehört sich nicht für einen Jugendlichen, Klassik gehört sich für niemanden. Klassik ist geradezu obszön.

Eine denkbar schwere Ausgangslage für den ergebenen Freund dieser Musik, zumal wenn es darum geht, Kontakte zum anderen Geschlecht zu knüpfen, Seelenverwandtschaft, Bindung zu suchen. Die Hemmung, das Gefühl, ein Outcast zu sein, bleiben allgegenwärtig. Leidenschaft für Fußball und politisches Laientheater vermögen nur wenig bis nichts am Bewusstsein der eigenen Andersartigkeit (Abartigkeit?) zu ändern. Ein Bewusstsein, das keineswegs auf die Pubertät beschränkt bleibt. Denn längst hat sich die globalisierte Gesellschaft auf Jugendkultur geeicht. Noch lange nach der Adoleszenz erkennt Möller die zwingende Notwendigkeit, sich zu tarnen, seine grandiose Unkenntnis von Queen, Deep Purple & Co. bestmöglich zu überspielen, Tonträger mit Rockmusik bereitzuhalten, um sie als sichtbaren Ausweis seiner Normalität jederzeit ostentativ vorführen zu können. Lebenslänglich.

Gerade solche Episoden sind es, die dieses Buch so liebenswert und zum unwiderstehlichen Lesevergnügen im Grenzbereich zwischen Schmunzeln und Mitgefühl machen. Man muss diesen Protagonisten einfach mögen, der mit entwaffnender Schonungslosigkeit von seinem Leben als Ausgestoßener erzählt; sieht ihn förmlich vor sich, wie er mit hochgeschlagenem Mantelkragen in einem auf Klassik spezialisierten Geschäft verschwindet, ängstlich darauf bedacht, von niemandem erkannt zu werden. Mit seinem Outing lädt Möller den Leser zu einem unprätentiösen Ausflug in die Verkehrte Welt. Das Stigma des Verruchten, Verbotenen haftet genau dem Bereich an, der im Bildungsbürgertum allerhöchste Akzeptanz genießt. Der Autor erhebt ihn förmlich zur Gegenkultur: elektrisierend wie Elvis, unerhört wie das Rolling-Stones-Konzert in der Waldbühne von 1965, verheißungsvoll wie das legendäre Woodstock-Festival, anstößig wie der Habitus der Punks, verboten wie der erste Joint. Unweigerlich zieht Möller auch den nicht einschlägig vorgebildeten Leser in seinen Bann; intuitiv fragt man sich: Was ist eigentlich dran an diesem letzten Tabu der Moderne: Klassik?

Und genau das macht das Buch auch für denjenigen interessant, der sich bislang einen feuchten Kehricht um furiose Crescendi, um mitreißende Arien kümmerte. Wer auch nur einen Funken Sympathie für Außenseiterfiguren hegt, wird es lieben, ganz unabhängig von der eigenen Haltung gegenüber Klaviersonaten und Streichorchestern. Man kann es durchaus als Liebhaber klassischer Musik lesen; dies jedoch ist keineswegs zwingende Voraussetzung, um es mit Herz und Intellekt zu verstehen. Denn hier geht es weniger um einen akademischen Gegenstand als vielmehr um eine Haltung, eine Leidenschaft, einen Lebensstil. Möllers Outing weckt Neugier auf jene erstaunliche Parallelwelt; es erfordert keinerlei akademische Vorbildung, sondern lediglich die Aufgeschlossenheit für Außenseiterfiguren, wie sie spätestens seit Goethes Werther? Eingang in die Literatur gefunden haben. Alles, was der Leserbraucht, ist Vorurteilsfreiheit. In Zeiten von Homo-Ehe, Gentechnik und Körperwelten wird man diese sicherlich sogar einer so abseitigen Vorliebe wie der klassischen Musik entgegenbringen. Lebenslänglich.

Oder etwa nicht?

Autor: Holger Dittmann

Literaturangaben

  • Möller, Steffen: Vita Classica. Scherz Verlag, Frankfurt am Main 2009. 478 S., 14,95 €, ISBN: 978-3502151685

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