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Kältere Schichten der Luft

von<br> Antje Rávic Strubel

„Niemand braucht eine Biographie“, gibt uns Anja zu verstehen – oder ist es Schmoll, der das gesagt hat? Dabei sind doch alle fortwährend damit beschäftigt, sich eine neue Biographie zu basteln. Die alte stimmte irgendwie nicht mehr, zwickte und zwackte, saß nicht so recht. Studium verkackt, in Halberstadt nichts auf die Reihe gekriegt, Tochter verloren oder einfach keinen vernünftigen Lebensplan gehabt. Ob Svenja, Ralf, Uwe oder Anja. Irgendwas geht immer schief.

Also auf nach Schweden ins Jugend-Kanu-Camp und neben der Stange Geld, die da zu verdienen ist, noch einen neuen Lebensabriss erstellen. Nicht wirklich von vorn anfangen, auch nicht wirklich aussteigen – für die meisten ist das Camp nur ein Sommerjob – aber doch das Gefühl haben, etwas anders machen zu können. Auf andere Gedanken zu kommen. Irgendetwas in den Griff zu bekommen. Zumindest eine Zeit lang das Aussteigergefühl tief einatmen. Am See, im Wald, in Schweden. „... keine halben Nächte in kalten Küchen mehr, keine leeren Bierpullen vor der Wohnung, kein Penner am Supermarkt, dem man aus Mitleid eine Flasche russischen Wodka neben seine umgekehrte Mütze stellte [...] Niemand, vor dem ich rechtfertigen mußte, wer ich war.“

Und niemand braucht Namen in Antje Rávic Strubels neuem Roman „Kältere Schichten der Luft“. Zumindest nicht den, auf den Eltern sich nach nächtelanger Diskussion dann irgendwann doch haben einigen können. Vielmehr einen, der zur neuen Biographie passt. Und da ist es nahe liegend, den in einer Umkleidekabine zu finden. Er muss schließlich auch sitzen, der neue Name. So findet Anja, genannt Schmoll, erst nach ungefähr 80 Seiten? beim Anprobieren eines Hemdes einen Namen für Siri, bis dahin nur das Mädchen, diese Frau, sie. Denn die elterliche Namensgebung von Siri ist nicht bekannt. Der Name wird dann an Siri selbst noch mal an- bzw. ausprobiert, scheint zu passen und darf bleiben.

Einer für alle. Jeder für sich

Die Namen könnten insgesamt beliebig ausgetauscht werden, ebenso wie die Lebensgeschichten der Protagonisten, die nicht das Interessante des Romans ausmachen. Im Camp sind alle gleich? Was den Lagerkoller angeht, schon. Aber der Rest der Utopie – zurück zur Natur und raus aus den Hierarchien des Lebens – funktioniert schon lange nicht mehr. Wer aus welchem Grund im Camp ist, spielt keine große Rolle. Jeder hat seine Geschichte, die er abzuschütteln versucht. Jeder auf seine Weise, alle zusammen. Jeder für sich. Reizvoller ist die Erzählstrategie, die dann doch so manche Überraschung bereithält, die hier nicht verraten werden soll.

Da erscheint es dem einen oder anderen durchaus hilfreich, körperliche oder seelische Gewalt anzuwenden, um mit eigenen Erlebnissen fertigzuwerden. Und obwohl im Camp viel gesprochen wird – vielleicht lassen der bereits erwähnte Lagerkoller und einige Mengen Alkohol die Gespräche teilweise durchgeknallter als nötig wirken - , wird nichts gesagt. Aneinander vorbei reden. Bloß nicht zu viel preisgeben. Vor den anderen auch ein bisschen an der eigenen Biographie basteln. Sie sitzen zwar alle im selben Camp, aber das muss ja nicht gleich heißen, dass sie sich Verständnis und Hilfsbereitschaft entgegenbringen. Der Einzelne hat genug mit sich zu tun.

Aussteiger aus dem Aussteigercamp

Siri hat in der Nähe des Camps ein Haus, das sie Schmoll zeigen möchte. Schmoll ist ein Junge und lebt in Anja, was nur Siri weiß. Anja verlässt das Camp, weil ihr Siri begegnet ist, die ebenso unerklärlich auftaucht wie verschwindet. Anja liebt Siri und Siri liebt Anja. Oder liebt Siri Schmoll? Und wen liebt Anja? Und spielt das eine Rolle? Was braucht man, wenn man keine Namen und keine Biographien mehr braucht? Liebe?? Irgendeine Idee von Liebe? Erinnerung? – möglichst nicht die eigene? Worte! Nicht nur der Zauberstoff, aus dem die Bücher sind. Bei Strubel können Worte noch mehr. Worte können alles (verändern). Sie können Erinnerungen erzeugen, Handlungen durchführen, aus einem Mord einen Unfall machen, sogar Sex? haben.

Die Sprache aus der Krise

Das mag sicherlich nichts Neues sein: „Sie sagte, sie streife sich die Träger von den Schultern. Das Kleid falle zu Boden, unter dem Kleid sei sie nackt. Sie sagte, sie begehre ihn.“ Dass Worte Vorstellungen erwecken können, die erregend sind, ist ein alter Hut. Dennoch hat der Wortzauber bei Strubel mehr zu bieten. Siri und Schmoll erreichen damit etwas, was die anderen im Camp nicht bewerkstelligen. Sie erzählen (oder erschaffen) sich ihr eigenes Leben, eine Geschichte, wie sie sie brauchen.

Strubels Protagonisten suchen nach Auswegen aus Krisen und Strubel gibt Schmoll und Siri die Sprache an die Hand: „‚Reden Sie weiter.’ Siri war plötzlich aufgeregt. Sie starrte mich an. ‚Was soll ich denn sagen?’ ‚Jetzt erzählen Sie schon, Sie wissen es doch!“ Also redete ich. Erst langsam, stockend. [...] Dann brach ich ab. Ich wußte nicht, worauf ich hinauswollte. Aber sie sah mich erwartungsvoll an, sie rief: ‚Wirklich? Jetzt erzählen Sie doch!’“ Und Schmoll erzählt. Eine Geschichte dieses verlassenen Hauses. Ihre Geschichte. Zwei Frauen, ein einsames Haus, eine Geschichte zwischen zwei Menschen. Es riecht nach Happy End?. Das kommt freilich nicht.

Antje Rávic Strubel beobachtet genau, sieht gut, empfindet nach und fühlt vor und kommt nach „Tupolew 134“ zurück zu der scheinbar greifbar nahen und doch nicht erreichbaren Liebe zwischen zwei Frauen aus „Offene Blende“. Immer hat Liebe etwas Flüchtiges, Nebulöses, Sichauflösendes. Niemand kann sie einfach nehmen und leben. Festhalten oder aufschreiben. Sie wirft das Leben nicht aus den Bahnen wir in einem platten Liebesfilm. Sie ist nicht rettend oder fröhlich. Sie kann die Biographien nicht schöner machen. Sie ist nicht haltbar. Sie ist wie Licht. Oder wie Luft. Kältere Schichten der Luft.

Literaturangaben:

  • STRUBEL, ANTJE RÁVIC: Kältere Schichten der Luft. Roman, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN: 978-3100751218, 189 S., 17,90 Euro.

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