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Schiffsmeldungen

von<br> E. Annie Proulx

QUOYLE. Das ist a) „… eine flämische Scheibe …, eine spiralige Rolle in einer einzigen Ebene. Sie wird in dieser Art auf Deck gemacht, so dass man, wenn nötig, drüber gehen kann.“ So steht es geschrieben in Clifford W. Ashleys Publikation „Das Ashley-Buch der Knoten“ aus dem Jahre 1944. Ohne dieses auf einem Flohmarkt von Proulx? für ein paar Cent erworbene Buch hätte es „Schiffsmeldungen“ nicht gegeben.

QUOYLE. Das ist b) der Name des Mannes, der den Leser durch „Schiffsmeldungen“ begleitet, ihn leiden lässt, seine zuweilen empfindliche Nase über die Maßen beansprucht und als Protagonist dergestalt daherkommt, dass man ihm ständig zu Hilfe eilen zu müssen meint. Denn weder scheint er ansehnlich zu sein noch geschickt im Umgang mit sich selbst und anderen, noch scheint er gut zu riechen. Butterfett von Bratkartoffeln an weiß geripptem Unterhemd ist denn auch nicht der Textauszug einer gehobenen Speisekarte, sondern der Permanentzustand seiner Unterwäsche.

Er hat es wirklich versucht: An der Uni „schleppte er sich durch Seminare, die er nicht begriff“. Er befüllte Süßigkeitenautomaten, verdingte sich als Nachtverkäufer und zuletzt als „drittklassiger Reporter“. Sein Gesicht wird als mit „Quaddeln übersät“ beschrieben, seine „Eingeweide in Aufruhr vor Gasen und Krämpfen“. Nun ja: Schön ist das nicht. Eines Tages lernt er Pedal Bear kennen, „dünn, feucht, heiß“. Nicht er nimmt den Kontakt auf, sie ist es, die ihm zuzwinkert. Und - wie kann es anders sein – Proulx schreibt über seine wahren Intentionen: „Quoyle hatte die Sehnsucht des dicken Mannes nach einer zierlichen Frau.“ Für kurze Zeit finden sie zusammen, aber für einen einzigen Monat Glückseligkeit bezahlt Quoyle mit „sechs verkorksten Jahren“. Sie zieht schon bald andere Männer vor, der letzte gibt ihr den Rest und sie gehen unter im amerikanischen Schlitten, der von der Autobahn abkommt und eine Böschung hinunterkracht. Zurück bleiben Quoyle und seine beiden Töchter Bunny, 6, und Sunshine, 4. Seine Ex hat die Kinder an einen Fremden verkauft, die Polizei findet neuntausend Dollar und eine eindeutige Adresse.

Das erste wahre warme Wort, das überhaupt ein Mensch an Quoyle richtet, kommt aus dem Mund seiner Tante Agnes Hamm, die sich mit ihm nach dem Tod seiner Eltern trifft. Diese hatten sich gemeinsam mithilfe der Gesellschaft für Humanes Sterben aus dem Leben verabschiedet, er wegen Leberkrebs und Schulden, sie wegen eines Hirntumors, der „ihr Denken auf einer Seite“ zusammenschob. Agnes Hamm, die erst nach der Beerdigung eintrifft und den Auftrag ausführen will, die Asche von Quoyles Vater auf Neufundland auszustreuen, sagt zu ihm, der mit geschwollenen Augen und verheultem Gesicht vor ihr sitzt: „Trink ein bisschen Tee.“

Da Quoyle in New York nichts mehr zu verlieren hat, lässt er sich auf Drängen seiner Tante Agnes darauf ein, mit Kind und Kegel dorthin zurückzukehren, woher seine Ursprungsfamilie stammt: Neufundland. Schneestürme im Mai, Nebel am Morgen, Nebel am Nachmittag. Straßen, die anderswo so nicht genannt würden. Und: ein zerfallenes Haus, in dem Agnes geboren wurde. Sie hat es sich fest vorgenommen, hier wieder alles aufzubauen und sich „nicht ein zweites Mal vertreiben zu lassen“. Ihre Materialien, die sie als Polsterin braucht, hat sie verschiffen lassen und erwartet sie binnen einer Woche. Derweil heuert Quoyle bei der Lokalzeitung Gammy Bird an und verfasst fortan Schiffsmeldungen und Berichte über Autounfälle. Sein erster – wie er meint – großer Wurf umfasst elf Seiten. Dafür gibt’s noch keinen eigenen Schreibtisch. Und erst Recht keinen Computer. Aber eines Tages ist ihm das Glück hold und ihm gelingt d i e Story.

Die Kinder gehen zur Schule und in den Kindergarten, die Tante baut weiter auf und aus, was sie sich vorgenommen hatte, und Quoyles Leben bekommt nicht nur eine gewisse Kontinuität und Festigkeit, sondern er entdeckt in der einzigen Lehrerin und Kindergärtnerin in Personalunion, dass es auch für einen wie ihn zum ersten Mal in seinem Leben wirkliche Liebe gibt. Sie wächst langsam, fällt zurück und findet letztlich doch ihr Ziel. Das Geheimnis der Quoyles und die Vertreibung aus „Quoyles Point“ werden nach und nach gelüftet, wobei sich eines der beiden Kinder als eines mit besonderen seherischen Fähigkeiten erweist.

E. Annie Proulx, 1935 in Vermont, USA, geboren, war dreimal verheiratet und hat drei Söhne. 1988 erschien ihr erstes Buch „Heartsongs and Other Stories“. Die Stipendien, die sie daraufhin bekam, machten ihr u. a. einen mehrmonatigen Aufenthalt auf Neufundland möglich. Die erworbene Kenntnis vom Leben auf diesem lebensfeindlichen Eiland finden sich an allen Stellen des Romans?. Mit großzügigem Augenzwinkern und einer unter die Haut gehenden Sprachfähigkeit gelingen ihr Charaktere mit lebendigen Fragen an das Leben, die nicht ohne Antwort bleiben.

Mit Agnes kommt etwas in das Leben des Protagonisten, was wir ohne Übertreibung Trotzmacht des Geistes nennen können, sogar bei einem, der so nach Schweiß und Fett riecht. Es gibt diese Fähigkeit in jedem menschlichen Wesen, „dennoch“ sagen zu können. Sie leuchtet jedoch nicht immer von selbst auf, sondern muss hier und da zum Leben erweckt werden. Es ist Agnes, die genau das bei Quoyle weckt, ohne zu wissen, dass es eine tief therapeutische Maßnahme ist. Es gelingt ein Weg vom Hinschlagen zum Liegenbleiben über erste neue Gehversuche bis hin zu Eigenständigkeit und einer neuen Art Liebe, die etwas ganz Notwendiges kann: „Nein“ sagen.

Proulx’ Blick auf das Hässliche am Menschen bleibt stets zärtlich, auch dann, wenn er zuweilen frech daherkommt. Dafür und für eine Sprache voller Metaphorik, die stimmig ist, bekam Proulx zu Recht den Preis, der (fast) immer ein Garant für große Literatur ist: 1994 erhielt die Autorin den Pulitzer-Preis.

„Schiffsmeldungen“ ist ein großer literarischer Wurf und verleiht den Lesern wundervolle Abende zum Abtauchen nach Neufundland und gleichermaßen die Einsicht, dass auch noch das dreckigste Dasein einen Sinn finden kann. Dabei ohne den erhobenen Zeigefinger auszukommen, ist ein weiterer unschätzbar wertvoller Neben-Effekt.

Autorin: Nicoletta Vogel

Literaturangaben

  • Proulx, E. Annie: Schiffsmeldungen. Roman. btb Verlag, München 2007. 416 S., 10 €, ISBN: 978-3442736119

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