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Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif

von<br> Jörg Albrecht

Im antiken Griechenland kursierte eine abstruse, aber wenigstens romantische Vorstellung vom Universum. Wenn, so der Gedanke, eine kleine Gitarrensaite bei etwas Schwingung vor dem Hohlkörper der Gitarre einen Ton erzeugt, welch fantastische Klänge müssen dann die in Bewegung befindlichen Himmelskörper produzieren? Sphärenmusik, so gedacht, müsste im gesamten Universum zu hören sein. Aber warum vernimmt man davon nichts auf der Erde? Das erschien zunächst egal und war nicht zum Schaden dieser poetischen Hypothese.

Inzwischen ist man weiter – oder zumindest anders. Kosmische Harmonie ist nicht mehr. Das Universum, unsere Lebenswelt und die Fernsehwerbung summen, rauschen und schrillen vor sich hin. Mit ein paar geübten Zugriffen lässt sich wöchentlich ein neues Weltbild herbeizaubern. „Öffnen, schließen, öffnen. So leben wir.“ Was das Auge nicht anders kann, ist zur Methode der Welterschließung geworden.

Geschult am Videospiel und an der Datenlawine

Jörg Albrechts? zweiter Roman „Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif“ reagiert konsequent auf jedes noch so lax dahingeplapperte Schlagwort? von Postmoderne, Ende der Geschichte oder Medienrevolution?. Dieser Roman ist außergewöhnlich. Mit der Generation als einzigem Fixpunkt wird keine glatte Welt, sondern erst ihre Erschließung, geschult am Videospiel, am (wahren alten) MTV und an der Datenlawine entworfen. Hat man nicht schon gehört, dass Videospiele besondere intellektuelle Fertigkeiten trainieren? Worum geht es hier eigentlich, ihr kosmischen Drillinge, die ihr als Erzähler-Trinitatis auf der Suche nach der Spacetaste fremdgewordene Räume durchstreift?

Vermutlich liegt hier die Geschichte Deutschlands im Gewand einer Weltraum-Oper vor (jedenfalls lauten so die Ankündigungen). Wernher von Braun, Perry Rhodan?, Sigmund Jähn, Ulf Merbold und das Sandmännchen treten auf in einem Schauspiel über den kollektiven Empirismus und die drohende Errichtung der „Disconation“ durch das Regime der „Individualverformer“. Das alles im Einflussbereich der vielschichtigen Idee? von Raum, Weltall, Space etc. Wer denkt schon über den Begriff „Weltraum“ genau nach? Und wer hätte gedacht, dass dieses Nachdenken so folgenreich sein würde?

Mit Versorgungsschläuchen an den Sauerstoff angeschlossen

„Jeder hat Erinnerungen an Schwerelosigkeit, mit Versorgungsschläuchen an den Sauerstoff angeschlossen.“ Ja, das Bild ist wirklich ziemlich schief und biologisch nicht korrekt. Problematisch ist dann auch der Umgang mit dem Begriff „deutsch“ im Text. Videospiele in „deutschen Kinderzimmern, Jugendzimmern, ab 1982“? Nicht ganz. Die Perspektive wird nicht immer eingeholt, wenn dann auch noch vom „zweiten Deutschland“ im Osten oder dem „anderen Deutschland“ die Rede ist. Doch das ist nur ein Symptom des ganzen Projekts. Unproblematisch kann „Deutschland“ auch gar nicht sein. Vielleicht wird hier die deutsche Geschichte nicht so bierernst verarbeitet, wie sie es leider verdient hat, und möglicherweise ist dieser Text etwas zu irre für ein gewisses Verständnis von Geschichte und Geschichten. Doch das ist genau das Richtige.

Denn sucht man nach dem Prinzip hinter dieser besonderen Art der Geschichtsschreibung, dann wird klar: Hier hat sich einer durch eine Fülle an Quellen? und Zeugnissen? gewühlt und dabei nie vorausgesetzt, diese Quelle könne schlechter oder besser sein als jenes Zeugnis. Und wenn bei dieser Arbeit die entsprechenden Quellen ins Spiel kommen, dann entsteht ein flimmerndes Antibild; begründet auf einer von der Wahrheit enttäuschten Methode des Sammelns. Dass der Gedanke an Wahrheit hier einmal da gewesen sein muss, zeigt sich am Fußnotenapparat? des Romans (die kleine Prise Stanislaw Lem?). Irgendwie – man weiß, dass Albrecht inzwischen über einer Dissertation? brütet; es geht um Abbrüche – liegt eine subversive Wissenschaft hinter dem Ganzen, die sich zu allem Überfluss auch noch dazu bekennt, dass mit ihr hin und wieder zu viel versprochen sein könnte. Fußnote? auf Seite? 115: „REM nicht für Musik, nur für Rapid Eye Movement!“ Nur? Rechnet dieser Text damit, dass man mehr erwartet? Jedenfalls macht es wirklich Spaß, sich an solchen Stellen vom Ross des Interpreten stürzen zu lassen.

Derrida lässt grüßen

Eine ernsthafte Interpretation (Was soll das eigentlich sein?) scheint schließlich ausgeschlossen. Derrida? lässt grüßen, wenn Otto Lilienthal hier sagen darf: „Wenn ich sage, daß ich Grenzen nicht als Trennung, sondern als Verbindung sehe, gilt das nicht nur für Grenzen zwischen Ländern.“ Hört sich auch etwas nach Bachtins? Karneval an – Entgrenzung als Befreiung.

Dieser Text kennt keine Grenzen außer den Buchdeckeln? und dem Buchrücken?, die im Bewusstsein des Gewöhnlichen aus dem Text erst die Ware machen. Was im Erstling? „Drei Herzen“ noch wenig unterfüttert schien, ist nun gereift, insofern die groß angelegte Absage ans Erzählen? auch einen groß angelegten thematischen Rahmen findet. „Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif“ (was für ein Titel!) ist aus der Familiengeschichterei herausgewachsen und trägt nun bis zum tragischen (Schreib)Ende; bis zur letzten – visuell sehr aufschlussreichen – Seite?.

Ein öffentlich gemachter Online-Zettelkasten

Immer mehr Rand verdrängt den Text und am Ende sieht der Leser Sterne. Aus Astronauten und Kosmonauten werden nach 1990 Audionauten und nur solchen wäre es ja vergönnt, die Sphärenharmonie doch noch zu entdecken. Eine Harmonie übrigens, an der sich „DJ Guido Knopp always keen on remixing“ dann endgültig verheben sollte. Folgerichtig gelangt man zur Erklärung des Begriffs? „Weltall“ und dem Zusammenfallen von „Word Order“ und „World Order“. Weltall ist überhaupt das Wort der Stunde – „ein letzter freier Musikmarkt“.

Kein Roman ist hier zum Lesen da, sondern eine besonders erschlossene Welt selbst; als öffentlich gemachter Online-Zettelkasten oder fossiles Blogroll. Wird man Albrechts nächsten Wurf gleich als pdf bekommen, so dass die Links nicht mehr produktionsbedingt sterben müssen?

Literaturangaben

Albrecht, Jörg: Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 229 S., 19,90 €, ISBN: 978-3835302709

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