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Stilles Chaos

von<br> Sandro Veronesi

Sandro Veronesis Roman „Stilles Chaos“ hätte auch schief gehen können. Hätte ins Gutmenschliche, Unglaubwürdige kippen können. Das liegt nahe, wenn man die Geschichte zusammenfasst: Pietro Paladini, erfolgreicher Manager eines Privatsenders, verliert im Urlaub plötzlich seine Lebensgefährtin. Aus Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter entschließt er sich, nicht mehr ins Büro zu gehen, sondern vor ihrer Schule auf die zehnjährige Claudia zu warten. Und in diesen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten wird ihm nicht etwa gekündigt, wird er nicht etwa wahnsinnig vor Trauer. Nein, er wird zu einer Art Quartiersguru, zu dem Familienangehörige, Anwohner und sogar seine Vorgesetzten pilgern, um ihre Sorgen und Ängste abzuladen.

Auf der Grenze zum Rührstück

Ein Balanceakt auf der Grenze zum Rührstück. Doch statt eines Heiligen zeichnet Sandro Veronesi das durchaus realistische Bild eines Geschäftsmannes, der meint, dass sogar Schmerz und Trauer sich nach der Agenda einstellten und im Bemühen, seine Tochter vor Kummer zu beschützen, übersieht, dass er derjenige ist, den es schon lange vor dem Tod seiner Freundin aus der Bahn geworfen hat.

Mit „Stilles Chaos“ ist Veronesi ein ebenso einfühlsames wie mitreißendes Leseerlebnis gelungen, das mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet wurde und in Italien seit Oktober 2006 auf der Bestsellerliste steht. In zahlreiche Sprachen wurde der Roman bereits übersetzt, im April haben außerdem die Dreharbeiten für die Verfilmung begonnen. Nicht immer garantieren solche Erfolge zugleich eine empfehlenswerte Lektüre?, bei „Stilles Chaos“ ist das jedoch uneingeschränkt der Fall.

Ein buntes Figurenensemble

„Ich heiße Pietro Paladini, bin vierunddreißig Jahre alt und Witwer.“ Veronesi lässt seinen Protagonisten seine Geschichte selbst erzählen, das sichert ihm bereits einen Großteil der Sympathien, und wenn man sich an die liebenswert machohafte Großmäuligkeit dieses wohlhabenden Mailänders erst einmal gewöhnt hat, liebt, leidet und lacht man über die gesamten fast 500 Seiten? mit ihm. Zur Seite gestellt hat ihm Veronesi ein buntes Ensemble von Freunden und Feinden. Die leicht psychotische, vom Leben gebeutelte, aber überaus attraktive Schwägerin. Den Personalchef des Privatsenders, der sich als wahrer Heiliger entpuppt und nach einer messianischen Verkündung als Entwicklungshelfer nach Afrika entschwindet. Der lurchhafte Kollege, der nach einer schreiend komischen Szene von der eigenen Paranoia verschlungen wird. Und noch eine ganze Reihe anderer Charaktere, denen Veronesi nicht nur ein kurzes Auftreten in Pietros Geschichte, sondern eine eigene Vergangenheit und Entwicklung zugesteht.

So entsteht ein zugegeben etwas konstruierter Bekanntenkreis, den man aber als Leser gleichwohl akzeptiert und mit Interesse verfolgt und wiedertrifft. So, als wäre man ein weiterer Bekannter Pietros. Oder einer der Mailänder, die seine Wache vor Claudias Schule verfolgen.

Eindeutiges Geschäfts- und Sexualgebaren

Dass seine Tochter Claudia daneben ein etwas blasser Trabant bleibt, beschienen von der Sonne des sorgenden Vaters, ist ein geschickter Kunstgriff – am Ende wird sich zeigen, dass sie sich wie alle Kinder ihre Freiräume auch unter der Observation der Erwachsenen zu erobern und zu erhalten weiß. Während Pietros Geschäfts- und Sexualgebaren ebenso eindeutig Auskunft über das „Stille Chaos“ in seinem Innern geben wie seine ausgiebigen Selbstreflektionen, bleibt Claudias Seelenleben im Dunkeln. Sie kommt klar. Irgendwie. Wie sie das schafft? Darüber mögen die Erwachsenen grübeln und dabei in Selbstmitleid versinken.

Sandro Veronesi, der selbst drei Söhne hat, denen er das Buch widmete, würdigt mit „Stilles Chaos“ die Kindheit als Raum mit eigenen Gesetzen. Zugleich offenbart er die elterliche Abhängigkeit von ihren Kindern. In einem Interview für den „Corriere della Sera“ gestand Veronesi, er habe nach der Trennung von seiner Frau viereinhalb Jahre gebraucht, um „Stilles Chaos“ zu schreiben. Erst als seine Söhne zu ihm gezogen seien, habe er die Schreibblockaden? lösen können.

Ein modernes Märchen

Die alte Frage, wie viel Autor im Protagonisten steckt, beantwortet Veronesi gerne. Auch sein Hund heißt Dylan, auch er küsste rund 50 Frauen in seinem Leben und auch er weigert sich, erwachsen zu werden. Es gibt eine kleine Anspielung auf Peter Pan im Roman. Die Jeansmarke von Pietros Bruder heißt Barry – wie der Erfinder der Geschichte vom Jungen, der nicht erwachsen werden sollte. Und sicher hört Veronesi auch gerne Radiohead, sonst hätte er ihren Songs mit seinem Buch wohl kaum ein Denkmal gesetzt. Aber „Stilles Chaos“ ist mehr als die Nabelschau eines Autors in der Lebenskrise, schließlich gilt Veronesi als bester italienischer Schriftsteller seiner Generation.

Ihm gelingt die Fiktionalisierung der eigenen Lebenswelt, die zugleich glaub- und unglaubwürdig ist wie ein modernes Märchen. Der Held wird in Versuchung geführt und siegt am Ende trotz seiner Verfehlungen. Die Bösen werden bestraft, die Guten gerettet. Und trotzdem geht der Roman nicht schief.

Literaturangaben

Veronesi, Sandro: Stilles Chaos. Roman. Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Knaus Verlag, München 2007, 480 S., 19,95 €, ISBN: 978-3813502862

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