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Essay: Elemente und Motive des Bildungsromans in Patrick Süskinds „Das Parfum“

Das Parfüm, Buchcover - (c) Diogenes Verlag

Um seine „Geschichte eines Mörders“ zu erzählen, verlegt Patrick Süskind? die Biographie seines Protagonisten Grenouille in genau jene Epoche, in der die Konzentration auf Individualität und Subjektivität nicht nur die Geniebewegung?, sondern auch die Entstehung traditioneller Bildungskonzepte von Aufklärung?, Klassik und Romantik zur Folge hatte. Im 20. Jahrhundert schreibend und damit einen anderen sozial- und geistesgeschichtlichen Hintergrund vorweisend, bedient er sich geschickt des literarischen GattungsmustersBildungsroman?“, um sich kritisch mit den epochen-typischen Bildungs- und Selbstfindungsideen auseinander zu setzen und den „Bildungsweg“ des Mörders Grenouille mit einer Selbstzerstörung enden zu lassen.

Natur, Vernunft und Erfahrung als Antriebskräfte menschlicher Bildung

Wenn Süskind seinen Erzähler Grenouilles Entscheidung „gegen die Liebe und dennoch für das Leben“ kommentieren lässt, wird mit den Wörtern „Vernunft“, „Erfahrung und „Bohne“ auf drei zentrale Aspekte der Bildungsdebatte im 18. Jahrhundert Bezug genommen.

Die sich aus einem Keim entwickelnde Pflanze, deren Entfaltungsrahmen zwar vorgezeichnet ist, aber dennoch Raum für individuelle Gestaltwerdung lässt, war ein häufig verwendetes Bild für den im Bildungsprozess seine individuellen Anlagen entfaltenden, aber in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt auch Wandlungen durchlaufenden Menschen. Humanitätsphilosophischen Überzeugungen entsprechend soll der selbstbestimmt handelnde Mensch die Gestaltung seines Lebensganges als sittliche Aufgabe begreifen, zu deren Gelingen es einer bewussten moralischen Anstrengung bedarf, um sowohl die eigenen Talente entfalten, als auch zum Wohle der Gemeinschaft beitragen zu können und damit das angestrebte Bildungsziel zu erreichen.

Der Sieg der sinnlichen Instinkt- über die geistige Menschennatur

Mit Grenouille wird ein von Natur aus bösartiges Individuum präsentiert. Seine Entwicklung zum Misanthropen und Massenmörder spottet jeder humanistischen Erziehungsidee. Doch entspricht sie, auch wenn die lieblose und nur auf eigene Vorteile bedachte Umwelt Grenouilles eine sozialpsychologische Lesart durchaus nahe legt, keineswegs dem typischen Werdegang eines Zukurzgekommenen oder Milieugeschädigten. Er braucht für seine Seele nichts; schon gar nicht Geborgenheit, Zuwendung oder Zärtlichkeit.

Zwar fehlen natürlich die Sozialisationsinstanzen, die den kleinen Grenouille zu einem moralisch handelnden Vernunftwesen heranbilden könnten, doch findet eine der Aufklärungsphilosophie entsprechende Erziehung und Entwicklung Grenouilles in erster Linie deshalb nicht statt, da er einem einzig und allein auf sinnlicher Instinktnatur basierenden (Über-)Lebensprogramm folgt, auf das alles mit dem Geruchssinn nicht erfassbare keinen Einfluss hat, also auch nicht genau eben jene geistigen, moralisch-sittlichen Werte, die die Grundfesten keineswegs nur aufklärerisch?-klassischer, sondern auch romantischer Bildungsvorstellungen ausmachen.

Grenouilles „mehr tierische als menschliche Existenz“ lässt so die nach traditioneller Bildungsvorstellung wechselseitig zusammenwirkenden Faktoren Natur und Vernunft auseinanderfallen. Er lässt sich durchaus als Personifikation reiner – wenn auch bösartiger – Natur verstehen, die mit ihrer sinnlichen „Geruchsbildung“ beim Bacchanal am Ende des Romans über die vernunftgesteuerte Menschenbildung triumphiert.

Ich-Welt-Konflikt als Zentralthema des Bildungsromans

Da Grenouille seine Umwelt fast ausschließlich olfaktorisch erfasst, beschränken sich auch „Sinn und Zweck und Ziel und höhere Bestimmung“ seines Lebens lediglich auf dieses eine Sinnensystem. Da sein Geruchssinn bereits von Geburt an perfekt ausgebildet ist, bedarf es nur noch des Erlernens praktischer Fähigkeiten, um „der größte Parfumeur aller Zeiten“ zu werden.\ß

Dass er sich mit seiner Umwelt nur auseinandersetzt, um sein einsinniges Entwicklungsziel zu erreichen, sie daran aber nicht teilhaben lässt und ihrerseits auch nicht auf Widerstände stößt, widerspricht umso mehr der klassischen Vorstellung einer ganzheitlichen Bildung, die erst nach inneren Wandlungen und enttäuschenden Erfahrungen in einer den eigenen Wünschen nicht unmittelbar entgegenkommenden Welt abgeschlossen werden kann.

Desillusionierende Sozialerfahrungen und Irrtümer, die eine falsche Tendenz des eigenen Lebensplanes aufzeigen und sich im späteren Verlauf des Bildungsweges als produktiv erweisen könnten, da sie idealistisches Schwärmertum oder gar einen übertriebenen Subjektivismus korrigieren und damit das Individuum der gesellschaftlichen Wirklichkeit annähern, bleiben aus. Als Grenouilles Lebensziel aufgrund mangelnder Erfolge bei der Duftgewinnung unerreichbar zu werden scheint, erfährt er durch Baldinis Hinweis auf weitere Verfahren der Duftgewinnung sofort äußere Unterstützung, seine Ambitionen weiter zu verfolgen. Auch die vom Marquis mit kosmetischen Mitteln betriebene Menschenbildung und Vergesellschaftung kommt ihm gerade recht. Indem sie ihm vorführt, dass Schein und Sein dieselbe Wirkung haben können, gibt sie Grenouille das Mittel zur Kompensation seiner ihm gerade erst anrüchig gewordenen Nicht-Existenz direkt in die Hand.

Doch obwohl seine Umwelt ihn auf diesem Weg sogar noch unwissentlich unterstützt, scheitert Grenouille; nicht an ihrer Unnachgiebigkeit oder de facto bestehenden Verderbtheit, sondern an sich selbst, da ihm die Erfahrung des eigenen Ich verwehrt bleibt. Wo sich im Bildungsroman Sozial- und Selbsterfahrung wechselseitig beeinflussen und gerade die negativen Sozialerfahrungen letztlich positiv zur Selbsterfahrung beitragen, scheitert hier am Ende der Versuch, die Unmöglichkeit einer Selbsterfahrung durch eine im sozialen Umgang erworbene Simulationsstrategie aufzuheben.

Synthesekonzepte

Die Frage nach den Konsequenzen des spannungsvoll-dialektischen Widerspiels zwischen Zielsetzungen des Einzelnen und den Forderungen der sozialen Wirklich-keit musste angesichts der fortschreitenden Sozial- und Geistesgeschichte unter-schiedliche Antworten und damit auch unterschiedliche Bildungskonzepte hervorbringen. Doch auch wenn die frühen Vertreter der romantischen Generation nicht damit einverstanden sein konnten, dass Goethe den Bildungsweg seines Wilhelm Meister? mit der Einordnung in die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, und damit nach ihrem Verständnis mit einer entsagenden Selbsteinschränkung, enden lässt, gehen sowohl die aufklärerisch?-klassische als auch die romantische Bildungsidee von einer Möglichkeit der Aufhebung des Ich-Welt-Konfliktes aus.

Soziale Brauchbarkeit und Integration – gesellschaftskonforme Bildung

Statt aufklärerischer Philanthropen stehen sich im „Parfum“ Misanthropen und nur auf eigene Zwecke Bedachte gegenüber, die sich in einer zwischen Sein und Schein nicht unterscheidenden Welt nicht aneinander abarbeiten, sondern einander in ihrer Egozentrik bestätigen. Soziale Brauchbarkeit wird als Bildungsziel diffamiert, denn sie ist nicht mit inneren humanistischen Überzeugungen des Bildungssubjektes oder der Gesellschaft verbunden, sondern wird allein festgemacht an der Wirkung von Äußerlichkeiten wie Kleidern, kosmetischer Maskerade, Posen, Gesten und Tanz-schritten. Statt Integration erstrebt Grenouille die Macht. Während der klassische Bildungsheld im gesellschaftlichen Miteinander die Ich-Welt-Beziehung und damit auch sein Selbstgefühl festigt, entwickelt er dort „einen routinierteren Umgang mit der Lüge“.

Analog zur einsinnigen Weltwahrnehmung Grenouilles werden Beziehungslosigkeit und Unfähigkeit zur produktiven Auseinandersetzung in erster Linie geruchlich offenbart. Grenouille flößt seinen Mitmenschen Angst ein, da sie sich von ihm in ihrem Innersten „errochen“ fühlen. In seiner Anwesenheit werden sie ihrer selbst und ihrer eigenen Unzulänglichkeit ansichtig. Die verdrängten Schuldgefühle, ihr schlechtes Gewissen und ihre Angst vor Selbstpreisgabe stehen einer weltzugewandten Selbstdarstellung entgegen.

Grenouille selbst kann diese Weltverschlossenheit nicht nur überbieten, indem er nicht einmal einen Eigengeruch an seine Außenwelt abgibt, sondern verfügt zudem auch noch über eine „instinktive Reserviertheit“ „gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte“. Neben die Angst vor Selbstpreisgabe tritt hier – als deren mögliche Ursache – noch die Angst vor ungewollter Einflussnahme von außen. Grenouille weiß, dass der, der die Gerüche beherrscht auch die Herzen der Menschen beherrscht ( „Denn der Duft war ein Bruder des Atems“) und fasst auf dieser Grundlagen seinen Plan, Menschen zu beherrschen.

Der Subjekt-Welt-Gegensatz wird auflösbar unter der Prämisse, dass sich beide Seiten nicht feindlich oder fremd gegenüber stehen und dass in beiden dieselben moralischen Gesetzte wirken. Im „Parfum“ scheint es, als ob gerade weil auf beiden Seiten dieselben Gesetze wirken, nämlich die des Subjektivismus und der Ich-Zensur gegenüber einer nur feindlich erfahrbaren Außenwelt, die, die sich ihrer Umwelt mitteilen, es nicht wollen,und dass der, der sich seines Inneren entäußern möchte, es nicht kann.

Subjektivismus und Rückzug ins Ich – innere Bildung

Der von den aufklärerischen und klassischen Bildungskonzepten trotz des Entzweiungszustandes des Welt vorausgesetzte harmonische Anschluss menschlicher Bildungsprozesse, lassen den Bildungsroman? romantischer Prägung zur Gattung der Bedürfnissynthese, des Ideals und der Utopie werden. Der im handelnden Vollzug des Lebens nicht mehr zu erreichende Ausgleich führt den Helden romantischer Bildungsgeschichten in die eigene Innerlichkeit, um dort eine Allsynthese jenseits aller Entzweiungen der empirischen Welt zu entwerfen.

Auch Grenouilles bevorzugter Fluchtweg ist zunächst sein Inneres. Doch handelt es sich bei seinem Rückzug in die Innerlichkeit? weder um eine Weltflucht, die ein Ideal gegen die Erfahrung retten will, noch äußert sich in ihr ein Synthesebedürfnis. Ein produktives Aneinander-Abarbeiten findet noch nicht einmal im Raum der Imagination statt. Die Einbildungskraft in ihrer Funktion als Vermittlerin zwischen inneren Bedürfnissen und äußerer Welt wird im „grenouilleschen Seelentheater“ zum Instrument übersteigerten Selbstgenusses und exzessiver Herrschaftsphantasien.

Das romantische Konzept einer Erfüllung in sich selbst ist für Grenouille nicht umsetzbar, da er kein Selbst, keinen Eigengeruch, besitzt. Beim Bad in der „eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz“ erweist sich seine Verabsolutierung des eigenen Ich als Subjektivismus ohne Subjekt.

Akzeptanz der Ich-Welt-Abhängigkeit als Prämisse menschlicher Selbstfindung

Die Notwendigkeit des Zusammenhangs von Individualität und Soziabilität als Prämisse menschlicher Selbstfindung erkennt Grenouille erst, als es schon zu spät ist. Als die anderen im Rausch des Bacchanals zu einer animalischen Existenz zurückgeführt werden und ihre Individualität im Kollektiv aufgeben, offenbart sich Grenouilles Menschlichkeit mehr als je zuvor, da er Entäußerung und Echo, also zwischenmenschliche Auseinandersetzung, verlangt. Während er die anderen dazu gebracht hat, ihr menschliches Bewusstsein zu verlieren, wird ihm seines zum Verhängnis.

Verwehrt wird ihm die Teilnahme an diesem Kollektiverlebnis auch durch sein Wissen um dessen Erzwungenheit und künstliche Inszeniertheit. Er hat es ja schließlich selbst herbeigeführt. Die Aufgabe menschlicher Individualität erfolgt damit nicht in romantisch-verklärter, selbstbestimmter Naturvereinigung, sondern in der Massensuggestion.

Der Blick in den Spiegel der Außenwelt entfernt Grenouille nur noch mehr von sich selbst, indem er ihm die Macht äußerer Wirkung offenbart und ihn so nicht zur Selbstfindung, sondern zur Selbsterfindung führt. Mehr noch. Grenouilles Einsicht erweist sich gar als vollkommen sinn- und nutzlos, da seinen Mitmenschen ihm und seinen olfaktorischen Verführungskünsten nicht das Geringste entgegenzusetzen haben.

Nie kommt es zu einem für Bildungsromane typischen Widerspiel der Kontrastfiguren?, bei dem das Individuum zur Selbstobjektivierung befähigt werden könnte. Mit dem für Selbstwahrnehmung konstitutiven Nebeneinander des Gegensätzlichen fehlt die Voraussetzung menschlicher Existenz. Grenouilles Selbstabschaffung wird damit zur logischen Konsequenz.

Wirklichkeit als Fiktion

Für die im „Parfum“ vorgeführte Menschenwelt mit ihrer Fixierung auf Wirkungen sind innere Werte und Entwicklungen nicht einfach bloß uninteressant, sondern mit Äußerlichkeiten identisch. Selbstdesign ersetzt Selbstbildung und verwischt die Grenze von Realität und Irrealität.

Bildet das Theater in Goethes „Wilhelm Meister“ eine zweite, scheinbare Realität der spielerischen Selbsterprobung und Vorbereitung auf reale Sozialerfahrungen, wird hier die Wirklichkeit selbst als Simulation vorgeführt, in der jeder nur als das oder der wahrgenommen wird, als das oder der er erscheint. Gesellschaftlicher Umgang gleicht damit einem Maskenspiel, bei dem das Wesen der Dinge verborgen bleibt. Bei Grenouille ist dieses Wesen der Dinge freilich das Nichts, denn seine Duftmaske soll nicht verbergen, sondern überhaupt erst herstellen, was zuvor nicht vorhanden war:eine Identität.

Sowohl Durchführung als auch Scheitern dieses Plans decken die Schwachstellen der Simulationsgesellschaft gnadenlos auf. Ausgerechnet der, der eigentlich nichts ist, kann hier den anderen alles sein. Grenouilles Duftkreationen, die ihn seine Außenwirkungen wie das Chamäleon die Farbe wechseln lassen, demonstrieren die Anfälligkeit der zwischen Sein und Schein nicht mehr unterscheidenden Menschen für Manipulation und Lüge.

Was Grenouille anfangs jedoch noch geschickt zu seinen Gunsten auszunutzen vermag, offenbart später die gravierenden Auswirkungen des gesellschaftlichen Maskenspiels auf die Möglichkeiten menschlicher Selbstfindung. Er will eine Antwort auf sein Innerstes, den Hass, kann aber nur Liebe, die Reaktion auf seine künstlich ge-schaffene Duftaura bekommen. Dem auf Ich-Welt-Verständigung angewiesenen Bildungssubjekt können keine existenziellen Gewissheiten mehr vermittelt werden. Der Bruch zwischen subjektivem Bewusstsein und äußerer Welt erscheint unaufhebbar, da sich ein menschliches Selbst in der simulierten Wirklichkeit weder authentisch äußern noch bilden kann.

Künstlerexistenz, Genialität und Schöpfertum

Am Ende scheitert mit Grenouille nicht nur ein um Selbstfindung bemühtes Individuum, sondern auch ein Künstlerexistenz. Mit den Vorstellungen romantischen Künstlertums hat seine Duftkunst allerdings nichts zu tun, da sein Schaffen von Beginn an unmittelbar mit Tod und Vernichtung verbunden ist. Seine Kunst dient nicht der ästhetischen? Selbstfindung, sondern verlangt nach einem Publikum, da er sie als Herrschaftsinstrument einsetzt und damit politisiert.

Während Grenouille in Baldinis Werkstatt noch genau jene vorrationale Naturbegabung und Inspiration an den Tag zu legen scheint, die auch das nach eigenen Regeln schaffende Originalgenie des Sturm und Drang auszeichnet, hat sein späteres Kunstschaffen und Schöpfertum mit natürlich-intuitiver Originalität nichts mehr zu tun. Seine Duftkonstrukte sind letztlich weder neu, da sie bereits Bekanntes und Gesammeltes rekapitulieren, noch von bleibendem Wert, da es sich um sich verflüchtigende immaterielle Werke handelt.

Parallel zur entäußerbaren und entkörperlichten Identität wird eine entdinglichte Kunst vorgeführt, die körperlose Schönheit über das Leben triumphieren lässt. In Grenouilles „synthetisierender Geruchsküche“ stirbt die Natur, um ein aus fremden Versatzstücken zusammengebautes Werk zu erzeugen, das in seiner Fragmentarität ebenso künstlich ist, wie die entlehnte Identität seines Schöpfers, die es begründen soll.

Die existenzielle Bindung an sein Kunstwerk erweist sich am Ende für Grenouille als ebenso zwingend wie fatal. Denn indem er sich als um dessen Zutaten und Machart wissender Künstler automatisch von seinem Werk distanziert, distanziert er sich gleichzeitig auch von sich selbst. Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit des Publikums einzig und allein auf die Wirkung der Kunst, nicht aber auf den Künstler gerichtet ist, der sich damit durch seine Kunst gar nicht mehr mitteilen kann. Mit dem Sinnverlust der Kunst für ihren Urheber hat auch dieser selbst seine Existenzberechtigung verloren und verschwindet ebenso spurlos wie sein Parfumkunst verduftet.

Grenouille selbst ist fest von seiner Genialität überzeugt. Der geniezeitlichen Tradition entsprechend bezieht auch er sich auf den Prometheus?-Mythos als Ursprung des Genie-Ideals?, geht in seinem übersteigerten Subjektivismus jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter. Indem er sich über Prometheus erhebt, gibt er nicht nur ein negatives Bild des selbstbestimmten Menschen ab, sondern legt auch genau jene Ignoranz gegenüber der Notwendigkeit zwischenmenschlicher Interaktion an den Tag, die dann zum Scheitern seiner Identitätssuche beitragen wird. Während Prometheus in seiner blasphemischen Ich-Autonomie Menschen nach seinem Bilde formt, sich also selbst ein Gegenüber erschafft, das ihm eine Selbstobjektivierung ermöglicht, bleibt Grenouille während seiner gesamten Schaffenszeit immer nur auf sich selbst bezogen.

Bildung des Lesers

Viele neuere Forschungsansätze? zum Bildungsroman? fordern eine allein an der beabsichtigten Wirkung auf den Leser orientierte Gattungsdefinition. Die Bildung eines aktiven, mitdenkenden und mitfühlenden? Lesers sei von größerer Bedeutung als die Darstellung der Geschichte des Hauptcharakters.

Gerade das Mitfühlen wird den Lesern des „Parfums“ jedoch verleidet. Zwar gibt der Erzähler immer wieder moralisierende Äußerungen von sich, doch lassen die stereotypen Wiederholungen und Formelhaftigkeit an deren Aufrichtigkeit zweifeln. Kommentare über Beweggründe und innere Befindlichkeiten Grenouilles tragen gerade nicht dazu bei, dass der Leser Klarheit gewinnt, indem sie ihn Grenouilles Handlungen besser nachvollziehen lassen, sondern sorgen durch Formulierungen wie „Er war von Beginn an ein Scheusal“ oder „er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch böse sei“ dafür, dass traditionelle Deutungsschemata, wie etwa der trivial-psychologische Ansatz, zwar nicht negiert, aber doch so weit in Zweifel gezogen werden, dass Deutungsvielfalt und Unverbindlichkeit des postmodernen „anything goes“ zum Ausdruck kommen.

Genauso, wie im Roman das gesellschaftliche Maskenspiel dem nach Identität suchenden Individuum keine existenziellen Wahrheiten und Gewissheiten mehr vermittelt, tut dies auch Süskind mit seinem Roman dem Leser gegenüber nicht. Zufälligkeiten, Paradoxien und „Wunder“ setzen die Lebensgeschichte Grenouilles permanent dem Verdacht fehlender Beglaubigung aus. Grenouille selbst ist keine Vorbildfigur, die die Erreichbarkeit individueller Lebens- und Bildungsziele exemplarisch vorführt, sondern wird dem Leser in seinem widernatürlichen Gemisch aus menschlichen, unmenschlichen und übermenschlichen Zügen nicht vollends begreifbar.

Grenouille ist eine Kunstfigur, mit deren Biographie Süskind? die unterschiedlichen Lebenskonzepte vergangener geistesgeschichtlicher Epochen nicht nur Revue passieren lässt, sondern auch auf die Lebensbedingungen des modernen Menschen bezieht. Dass sie sich als unpraktikabel erweisen und auch keine alternativen Selbstfindungskonzepte vorgestellt werden, macht deutlich dass sich die Suche nach Leserbildung fördernden Elementen im „Parfum“ am Ende als ebenso sinnlos herausstellt wie das Leben Grenouilles selbst.

Das Parfum – ein Antibildungsroman?

Das Zusammenspiel von „Gegenüber-Sein“ und „Dazu-Gehören“, Individualität und Soziabilität, als zeitloses Grundproblem menschlicher Existenz rückt im „Parfum“ gerade nicht wie in den klassischen Bildungs- und Antibildungsromanen durch einen direkt ausgetragenen Ich-Welt-Konflikt ins Zentrum des Interesses, sondern offenbart seine Notwendigkeit ex negativo durch die Unmöglichkeit existenziell-produktiver Auseinandersetzung.

Am Ende muss Grenouille erkennen, dass die Befreiung des Menschen von seiner Auseinandersetzung mit seiner Umwelt nur unter Verlust des Menschseins verwirk-licht werden kann. Der Leser des „Parfums“ muss erkennen, dass eine Auseinandersetzung in der Schein auf und Simulation beruhenden „Un-Welt“ erst gar nicht möglich ist; wahres Menschsein demnach gar nicht erst ausgebildet werden kann. Die Veräußerlichung von Identität und Bildung ist gleichbedeutend mit der Negation jeglicher Innerlichkeit; des Raumes existenzieller Selbstreflexion und –findung im Sinne klassischer Bildungsideen.

Indem Süskind sowohl die linear-chronologische Erzählstruktur, als auch die motivischen Elemente des traditionellen Bildungsromans übernimmt, dessen Grundkonflikt aber negiert, praktiziert er genau jenes Verfahren des Scheins und der Äußerlichkeit, das sowohl die Gesellschaft des „Parfums“, als auch die Welt des modernen Menschen, deren Angehöriger Süskind ja ist, bestimmen. Ein Unterschied könnte vielleicht dann doch darin liegen, dass Süskinds Roman, auch wenn er natürlich keine endgültigen Wahrheiten oder gar Lösungen vermitteln will, zumindest noch eine Chance bietet, hinter die Maske zu blicken.

Autorin: Martina Maibaum

Literatur

Primärliteratur

  • Süskind, Patrick: Das Parfum: Die Geschichte eines Mörders. Diogenes Taschenbuch 22800. Zürich: Diogenes, 1994.
  • Goethe. Berliner Ausgabe. 10.Bd. Poetische Werke. Romane und Erzählungen. Wilhelm Meisters Lehrjahre. 2.Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag, 1971.

Sekundärliteratur

  • Delseit Wolfgang und Ralf Drost: Patrick Süskind „Das Parfum“: Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam, 2000.
  • Frizen, Werner und Marilies Spancken: Patrick Süskind „Das Parfum“. Oldenbourg Interpretationen 78. München: Oldenbourg, 1996.
  • Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder: Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. 2. unveränd.Aufl. München: Wilhelm Fink, 1972.
  • Jacobs, Jürgen und Markus Krause: Der deutsche Bildungsroman: Gattungsge-schichte vom 18. bis zum 20.Jahrhundert. München: Beck, 1989.
  • Matzkowski, Bernd: Erläuterungen zu Patrick Süskinds „Das Parfum“. Königs Erläuterungen und Materialien 386. Hollfeld: C.Bange, 2000.
  • Selbmann, Rolf: Der deutsche Bildungsroman. 2., überarb. u. erw. Aufl. Sammlung Metzler 214. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994.
  • Wittstock, Uwe: Roman oder Leben: Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam, 1994.

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