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Das Gesicht wiederfinden

von<br> Barbara Honigmann

Fast ein Dutzend, meist dünne Bücher, und ebenso viele Literaturpreise seit ihrem Debüt? 1979 mit der Bearbeitung eines Grimm’schen Märchens fürs Theater, in einer Art „Vorleben“ als Theaterdramaturgin in der DDR, und dann, seit der Ausreise 1984, das „Doppelleben“ einer deutsch schreibenden, im Alltag französisch sprechenden, mindestens einmal in der Woche tief ins Hebräische und Aramäische sich versenkenden Autorin, die den Talmud „lernt“, wie man das nie zu Ende gehende Studium der jüdischen Überlieferung nennt: Barbara Honigmann?, geboren 1949, Tochter jüdischer Emigranten, Ehefrau und Mutter zweier Söhne mit Wohnsitz in Straßburg, ist eine Schriftstellerin, die quer steht zu allem, was in der deutschen Nachkriegsliteratur gang und gäbe ist.

Eine „Grenzgängerin“ zwischen den Bereichen, in denen sie lebt: „Mutter, Künstlerin und eine richtige Jüdin wollte ich werden“. Diese Lebensentscheidung hat Konsequenzen: „Wer sich der doppelten Bindung verschreibt, bleibt immer Grenzgänger, und ich bin es oft leid, mich auf beiden Seiten der Grenze einem fassungslosen Unverständnis ausgesetzt zu sehen, mich immer von neuem jeweils als Künstlerin und gleichzeitig als halbwegs praktizierende Jüdin erklären zu müssen, mit Begründungen, die allesamt inkohärent sind, weil ein Widerspruch ein Widerspruch ist und auch bleibt.“

Autobiographisches Schreiben

Den Widerspruch wenn schon nicht vollends erklärlich, so doch in immer neuen Anläufen wenigstens als eine mögliche Existenzform, für sie als Person (im strengsten Sinn von „persona“ als von dem, was durch jemanden durchscheint, durchtönt) darzulegen, dienen die sehr verschiedenen – und doch als autobiographische Dringlichkeiten kenntliche – Reden und Aufsätze? des schmalen Buchs „Das Gesicht wiederfinden“ mit dem Untertitel? „Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum“.

Ganz gleich, ob sie in einer Tübinger Poetikvorlesung über jene Glückel von Hameln? spricht, die 1645 geboren, ihr langes Leben als Händlerin in ashkenasischem Jiddisch mit hebräischen Lettern? aufzeichnete, oder über Anne Frank, die in einem Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht in niederländischer Sprache Tagebuch führte, oder über Rahel von Varnhagen?, die sich ihr Deutsch, in dem sie ihre Tagebücher und Briefe schrieb, erst erfinden musste – Barbara Honigmann geht konsequent von den eigenen Erfahrungen aus.

Ihre drei Zürcher Poetikvorlesungen hat sie ausdrücklich dem autobiographischen Schreiben gewidmet. Sie schlägt darin einen weiten Bogen von Montaigne? und Rousseau? bis zu Etty Hillesum?, die im Angesicht des von ihr als gewiss verstandenen Todes (der Ermordung im Vernichtungslager Auschwitz nämlich, der sie nicht entkommen ist), aufgezeichnet hat, was ihr wichtig war; sie behandelt die Gefahren der Selbstinspektion und ihren Rang, diese „Kunst, das Gesicht wiederzufinden“.

Erhellende Talmud-Studien

Dazu gehört es eben für sie auch, sehr ausführlich und auf unvergessliche Weise ihre Talmud-Studien in Straßburg zu beschreiben, auf einigen Seiten, die mehr als dicke Bücher verstehen machen, was es mit dem Bemühen um Auslegung über Jahrtausende hinweg auf sich hat: „Es mag sein, dass es diese dauernde Anspannung dem Text gegenüber und das nie abgerissene Gespräch zwischen den Kommentatoren der unterschiedlichsten Zeiten und weit entfernten Geographien waren, die es vermocht haben, dass das Judentum sich nie erschöpft hat.“

In ihrer Rede zur Verleihung des Kleistpreises? im Jahr 2000 ist sie darauf zurückgekommen. Sie hat über das „Schiefe, das Ungraziöse, das Unstimmige“ bei Kleist (und bei sich selbst) öffentlich nachgedacht und ist dabei, von der peniblen Auslegungskunst der Talmud-Schülerin belehrt, auf einen bislang unbemerkten Widerspruch in Kleists „Über das Marionettentheater“ gestoßen: Kleist beschreibt darin nämlich eine antike Statue des „Dornenausziehers“, die es so gar nicht gibt. Er verwechselt sie, wie Honigmann vermutet: absichtlich, mit einer anderen, der des Hermes nämlich, der sich einen Schuh bindet.

Honigmann versucht in den Aufsätzen, uns über hierzulande unbekannte, unterschätzte oder gar missverstandene Menschen etwas Triftiges mitzuteilen: über den französisch schreibenden Autor Albert Cohen?, über Berta von Pappenheim?, die als „Anna O.“ zu jenem „Fall“ wurde, von dem Freuds Forschungen über Hysterie ihren Ausgang nahmen und die, geheilt, zu einer Sozialarbeiterin (und Forscherin) von Rang wurde, und schließlich über Thomas Brasch?, den genialischen Freund aus frühen Tagen, dem sie einen Nachruf widmet. All das anscheinend Disparate lässt sich begreifen als Teil eines Selbstporträts.

Die Klugheit und die Naivität, mit denen sie dabei vorgeht, sind ebenso verblüffend wie überzeugend. Sie will etwas von denen wissen und mitteilen, über die sie schreibt und sie will uns wissen lassen, dass es sich um wichtige Dinge, vielmehr um wichtige Personen handelt. Und das alles ohne jede Eitelkeit und voll einer Selbstgewissheit, die aus dem Zweifel, aus den Widersprüchen kommt. „In ihren Aufzeichnungen sieht uns, anders als in den Beschreibungen und Untersuchungen von Historikern, die Geschichte direkt an. Direkt ins Gesicht“, schreibt die Autorin über Glückel?, Rahel? und Anne. Das gilt in einem gewissen Sinn auch für ihr Buch. Es schaut uns direkt ins Gesicht und wirkt lange nach.

Literaturangaben

  • Honigmann, Barbara: Das Gesicht wieder finden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. Edition Akzente. Hanser Verlag, München 2006. 167 S., 16,90 €, ISBN: 978-3446206816

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