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Narratologie

Als Narratologie bezeichnet man die Wissenschaft vom Erzählen. Als Vorläufer gilt die klassische Erzähltheorie, die unmittelbaren Ursprünge liegen jedoch im Strukturalismus? der 1960er Jahre.

Definition

Die Narratologie ist die Wissenschaft vom Erzählen. Unter der Bezeichnung werden verschiedenartige Ansätze wissenschaftlicher Erzähltheorien zusammengefasst, die eine möglichst systematische Erforschung, Beschreibung und Typologisierung von Erzählvorgängen anstreben. Die Narratologie, so wie sie gegenwärtig in der Literaturwissenschaft betrieben wird, ist ein weitgehend interdisziplinärer Forschungszweig, das heißt: Die Narratologie steht in unmittelbarem Gedanken- und Methodenaustausch mit anderen wichtigen Erzählfeldern, wie z. B. Film, Theater, Malerei und Musik, aber auch Psychologie und Soziologie.

Im Mittelpunkt der narratologischen Forschung steht die Analyse des Erzählten sowie die Beschreibung seiner Oberflächen- und Tiefenstruktur. Der Fokus liegt dabei überwiegend auf Texten aus dem Bereich der Epik. Für Drama und Lyrik gibt es eigene literaturwissenschaftliche Theorien. Die Narratologie fragt hauptsächlich nach verallgemeinerbaren Aspekten des fiktiven und nicht-fiktiven Erzählens, wie z. B. Erzählperspektive, Erzählzeit, erzählte Zeit, Erzählsituation?, Erzählrhythmus? und Erzählzweck?. Untersucht werden aber auch Gattung, Stoff, Stil und Motive.

Entstehung

Die Narratologie ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der klassischen Erzähltheorie hervorgegangen. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Ansätzen liegt im strengen Regelsystem, das die narratologische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat. Im Vergleich dazu war die klassische Erzähltheorie, die in Deutschland im späten 18. Jahrhundert kräftigen Auftrieb erhielt, eher auf allgemeine Inventarisierung und subjektiv gefärbte Beschreibung der Oberfläche angelegt. Der unmittelbare Ursprung der Narratologie liegt jedoch in den 1960er Jahren: In diesem Zeitraum konnte sich in Frankreich in der Nachfolge des russischen Formalismus? eine stark strukturalistisch geprägte Erzählforschung etablieren.

Der Strukturalismus? war eine von Frankreich ausgehende Theorie, die – analog den exakten Forschungsmethoden der Naturwissenschaften – auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften auf objektiv überprüfbare Untersuchungsverfahren abzielte. Erheblichen Einfluss übte der Strukturalismus nicht nur auf Philosophie und Soziologie aus, sondern auch auf die Literaturwissenschaft. Bedeutende Köpfe der neuen Bewegung waren der Literaturwissenschaftler? Roland Barthes? und sein Schüler Gérard Genette?, der Philosoph Michel Foucault?, der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Literaturwissenschaftler? Tzvetan Todorov? und der Sprachforscher? Ferdinand de Saussure?. Ein Ziel war, die Strukturen literarischen Erzählens offenzulegen. Das Erzählte sollte in seine einzelnen Bestandteile bzw. Module zergliedert werden (Morphologie?). Dieser Aufgabe war die klassische Erzählforschung – aus Sicht der Strukturalisten – aufgrund ihres Theoriedefizits nicht gewachsen.

Die 31 Module des Zaubermärchens

Ein frühes und anschauliches Beispiel der strukturalistischen Arbeitsmethode lieferte der russische Philologe? Wladimir Propp?, der in den 1920er Jahren 100 Zaubermärchen hinsichtlich ihrer Struktur untersuchte. Sein Ziel war es, eine Art Grundmuster ausfindig zu machen, das diesen 100 Zaubermärchen gemeinsam war. Propp? kam zu dem Ergebnis, dass jedes der Zaubermärchen aus jeweils 31 Modulen besteht. Ein Modul war z. B. „Dem Helden wird ein Verbot erteilt“. Damit schuf Propp? ein narratives Basismodell, das die Strukturalisten Jahrzehnte später aufgriffen.

Entwicklung

Die vielfältige wissenschaftliche Herkunft der führenden Strukturalisten lässt den Weg erahnen, den die narratologische Forschung in den folgenden Jahren beschritt. Wie der Strukturalismus im Allgemeinen entwickelte auch die Narratologie ein System von ebenso komplexen wie widersprüchlichen Theorien. Doch bei allen Widersprüchen und theoretischen Ausschweifungen innerhalb der Systeme blieben zwei Begriffe von zentraler Bedeutung: histoire und discours. Das bedeutet: Der Inhalt des Erzählten (histoire) und seine Präsentation (discours) stehen in ständiger Wechselwirkung. Daran anknüpfend, untersuchte man nun das Verhältnis von histoire und discours und überlegte, welche Faktoren hierbei den stärksten Einfluss ausüben.

Die Geheimnisse der Tiefenstruktur

Wichtig war dabei vor allem die Frage nach Strukturen, die dem Erzählten möglicherweise zugrunde liegen und unerkannt bleiben. Diese verborgenen, mit den Augen nicht les- und erkennbaren Strukturen bezeichnet man in der narratologischen Forschung üblicherweise als Tiefenstruktur. Im Gegensatz zur Oberflächenstruktur (oder Textstruktur), die Aufschluss über Gattung, Motiv, Stoff, Erzählperspektive usw. gibt. Die Untersuchung der Tiefenstruktur zeigt übrigens auch, wie fruchtbar die interdisziplinäre Ausrichtung für die Narratologie war. Denn um Erkenntnisse über die Tiefenstruktur von Texten zu gewinnen, wurden bekannte Untersuchungsmethoden aus der Psychologie und Soziologie angewendet.

Typische Fragen, die z. B. die Tiefenstruktur eines Romans von Umberto Eco betreffen könnten, sind: Warum interessiert der Autor sich für seinen Stoff? Warum schreibt er einen Roman – und nicht eine Novelle oder Komödie? Welche Leser fühlen sich von dem Roman thematisch oder optisch (Einbandgestaltung) angesprochen? Gibt es zwischen Autor und Leser eine gemeinsame Sichtweise (Interpretation) auf den Roman? Aus welcher sozialen Schicht stammen die Leser des Romans überhaupt? Konnte der Roman nur in dieser und in keiner anderen Form geschrieben werden? Angenommen, jemand wäre bei der Frage nach der Sichtweise (Interpretation) zu einem Ergebnis gekommen, dann könnte man 15 oder 20 Jahre später die Frage wieder aufgreifen und möglicherweise einen Wandel in der Sichtweise feststellen – und hierbei noch zwischen den Interpretationsmodellen von Männern und Frauen unterscheiden.

„Der Tod des Autors“

Grundlegende narratologische Schriften stammen u. a. von Ferdinand de Saussure? „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ (1916), Wladimir Propp? „Morphologie des Märchens“ (1928), André Jolles? „Einfache Formen“ (1930), Käte Homburger? „Die Logik der Dichtung“ (1957), Tzvetan Todorov? „Die Kategorien der literarischen Erzählung“ (1966), Roland Barthes? „Der Tod des Autors“ (1968), Michel Foucault? ("Was ist ein Autor?", 1969) und Umberto Eco „Lector in Fabula“ (1987).

Sekundärliteratur

  • Genette, Gérard: Die Erzählung. EA 1998. UTB Verlag, Stuttgart, 3. Aufl. 2010, ISBN: 978-3825280833
  • Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Utb, Stuttgart 2007, ISBN: 978-3825229139
  • Martinez, Matias; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. C. H. Beck, München 2009, ISBN: 978-3406471308
  • Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Walter de Gruyter, Berlin 2008, ISBN: 978-3110202649

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